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Gesang der Rosen

Gesang der Rosen

Titel: Gesang der Rosen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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feucht und modrig. In den hier zu erwartenden Geruch nach Verfall und Auflösung mischte sich ein süßlicher Geruch, wie er an heißen Sommertagen auf Friedhöfen anzutreffen ist. Die Stallampe in dem blinden Glassturz flackerte ein wenig und verbreitete ein rotgelbes Licht. Irgendwo in einer Ecke der Gruft tropfte es gleichmäßig die Wand herunter … klick … klick … klick … eine Geräuschfolge wie von einem Metronom … eintönig, einschläfernd und in gleichem Maße aufregend.
    Was sagte der Schmied? fragte sich der Junge und legte seine Feder auf den Rand des Taufbeckens. Hirngespinste! Träumereien! Die Welt braucht Männer, keine Träumer! Warum versteht denn diese Welt nicht, daß es Bedeutenderes gibt als einen starken Arm und eine geballte Faust? Will diese Welt denn keine Seele kennen? Haben die ewigen Kriege nicht dem Menschen längst gezeigt, daß die größten Werte im Frieden der Selbstentfaltung liegen, in dem, was der Abbé Bayons das Aufgehen des Irdischen in Gott nennt?
    Der Junge stützte den Kopf in beide Hände und blickte auf den runden Grund des Taufbeckens.
    »Ich will hinaus«, sagte er leise vor sich hin, und der Ton seiner eigenen Stimme inmitten des Moders eines gestorbenen Jahrhunderts schreckte ihn auf und riß ihn empor. »Ja, ich will hinaus. Es ist zu eng in Carpentras – die Welt fängt ja erst an hinter dem Silberband der Rhône. Und dann habe ich die Weite vor mir, die Unendlichkeit des Raumes und die Geheimnisse des freien Lebens.«
    Er sah in den Schein der Lampe und schraubte den Docht ein Stückchen höher.
    »Der Vater sagt, in der Weite des Lebens verliefe ich mich«, sprach er weiter. »Aber scheuten denn die Troubadoure ein Abenteuer, oder schreckten sie zurück vor den Rätseln der Zukunft? Sie waren frei wie der Adler unter der Sonne, und sie schufen leuchtende Werke, in Verse eingefangene Sonnen. Bin ich nicht sechzehn Jahre alt? Ist diese Welt zu schwer für meine Jugend? Mit sechzehn Jahren begann Alexander ein Weltreich zu erobern, mit sechzehn Jahren ritt einst Konradin als Kaiser des deutsch-römischen Reiches durch das Blumenmeer von Neapel. Mit sechzehn Jahren legte Thomas Morus den Grundstein seiner Utopia. Und ich soll zu jung sein, eine Welt mit Versen auszufüllen?«
    Er schwieg eine Weile und starrte in das flackernde Licht.
    Eintönig tropfte es von den Wänden … klick … klick … klick … André mußte husten, die Moderluft legte sich ihm schwer auf die Brust. Ein Reiz, dauernd zu hüsteln, kitzelte in seinem Hals. Er stand auf, nahm die Lampe in die rechte Hand, schritt an den feuchten Wänden entlang, hielt das Licht dicht an die gemeißelten Sprüche und versuchte, sie zu entziffern. Als Küsterjunge von Abbé Bayons besonders beobachtet und geschult, hatte er schon in ganz jungen Jahren den Grundstock des Lateinischen erlernt und sich, getrieben von seinem Wissensdrang, stufenweise vervollkommnet.
    Plötzlich blieb er vor einem halbverwitterten Spruch stehen, der unter dem abgeblätterten, nur noch in Konturen erkennbaren Mosaik eines Ritters mit einer Fahne in den graugrünen Stein gemeißelt war.
    Spernere mundum,
spernere neminem,
spernere se ipsum,
spernere se sperni!
    Verwundert schaute André den merkwürdigen Spruch an, der so gar nicht in das Kreuzgewölbe einer Kapelle paßte, und übersetzte ihn, indem er die Worte halblaut vor sich hinsagte:
    »Verachte die Welt,
verachte niemanden,
verachte dich selbst,
verachte, daß du verachtest wirst!«
    Sinnend hielt er die Laterne an das verfallene Mosaik, betrachtete die Überreste des Ritters und ging dann zum Taufstein zurück, wo er sich wieder auf den Feldstuhl setzte.
    »Verachte, daß du verachtest wirst«, sagte er leise, strich mit dem rechten Zeigefinger über das heiße Dach der Lampe und starrte in das flackernde Halbdunkel. »Ob man wirklich verachten soll, was einen nicht versteht? Liebet eure Feinde, steht geschrieben. Ist Liebe im Kampf um das Leben stärker als Verachtung?«
    Es war André nicht möglich, darauf eine Antwort zu finden. Das lag nicht im Bereich seiner unreifen Gedanken. Allein das harte ›spernere se sperni‹ bohrte sich tief in das Bewußtsein Andrés, der plötzlich eine neue, unbekannte, nie gesuchte Welt in einem einzigen Spruch fand. Die Hügel von Carpentras, über die der heiße Wind strich, die Weite der sonnenüberfluteten Provence, die Täler waren seine Heimat, seit sich seine Gedanken im Leben zurechtfanden und seine himmelstürmende Jugend
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