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Gesang der Rosen

Gesang der Rosen

Titel: Gesang der Rosen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    Ganz oben auf der Kuppe des mit Gebüsch bewachsenen Hügels lagen sie in der prallen Mittagssonne, kauten an Halmen, zeichneten mit den Fingern in der Luft die Formen der ziehenden Wolken nach, freuten sich über die Wärme der Strahlen und den Duft des hohen Büschelgrases und warteten auf das Läuten der kleinen Glocke auf dem schmalen Turm der Kirche unten im Tal.
    »Gleich muß sie läuten«, sagte der sechzehnjährige André Tornerre, der Sohn des Küsters von Carpentras, zu der mit geschlossenen Augen lächelnden Jeanette Tergnier und drehte sein von schwarzen Locken umrahmtes Jungengesicht hinüber zu ihr. »Es ist doch gleich Mittag – oder glaubst du, noch nicht?«
    Jeanette schüttelte den Kopf und zerpflückte mit immer noch geschlossenen Augen einen Wiesenklee. »Ob man zu Hause nach uns suchen wird?« fragte sie, richtete sich plötzlich auf und sah den Jungen mit großen, sehr dunklen Augen an. Ihre dichten, pechschwarzen Locken ringelten sich wie Schlangen um das gebräunte Gesicht. »Warum hast du mich eigentlich so hoch auf den Hügel gelockt? Um in der Sonne zu liegen und Gräser zu kauen? Unten warten sie mit dem Essen auf uns, und mein Vater …«
    »Ach, vergiß im Moment deinen Vater.«
    André setzte sich auf und blickte über die sonnige Weite der Provence. Am Rand des blaßblauen Himmels, fast dort, wo er auf die dunstige Erde stieß, floß breit und träge die Rhône. Auf den Feldern leuchteten die bunten Tücher der Mägde, und am Fuß des Hügels weideten die Herden der breitschädeligen provenzalischen Rinder, deren lange Hörner sie unverwechselbar machen.
    »Ich habe dir ein Geheimnis zu verraten«, fuhr André fort, während Jeanette die Arme um ihre an den Leib gezogenen Knie schlang. »Ein Geheimnis, meine liebe Jeanette, für das der Trubel da unten zu laut und der Heuboden hinter eurem Haus nicht erhaben genug ist.«
    Er verstummte und schaute wieder über das Land. Die kleine Jeanette blickte ihn von der Seite an und wartete ein wenig widerstrebend, im Inneren aber gespannt und voll prickelnder Neugier, auf das Geheimnis des Küsterjungen. Ein leichter, heißer Wind blies durch ihre Locken, während André ein vergilbtes, zusammengefaltetes Papier aus der Tasche zog, sich nach allen Seiten umschaute, als müsse er einen kostbaren Schatz vor Entdeckung durch Fremde bewahren, und sich dann wieder an Jeanette wandte.
    »Ich habe unter der Krypta der Kirche, in der kleinen Felsenkapelle, weißt du, einen steinernen Block, der sich bewegen ließ, gefunden. Hinter dem Block lag eine Nische.«
    Jeanette sah ihn mit großen, ziemlich ungläubigen Augen an und strich sich eine Locke aus der Stirn.
    »Einen steinernen Block und eine Nische?« fragte sie dann, als André, die Wirkung seiner Worte abwartend, schwieg.
    »Ja, eine kleine aus dem Fels gehauene Nische. In dieser befand sich ein kleiner hölzerner Kasten mit allerlei Sprüchen in einem fremden Dialekt, und in dem Kästchen lagen fein gefaltet lauter eng beschriebene Pergamente – Gedichte, Lieder, Romanzen und Liebesverse …«
    Jeanette war aufgesprungen, aber André fuhr sie ziemlich barsch an: »Setz dich, damit man dich im Tal nicht sieht! Oder interessiert dich das Ganze nicht?«
    »Doch, André, aber … aber sag mal, hast du das Kästchen deinem Vater schon gezeigt?«
    »Nein.«
    »Und dem Abbé Bayons auch nicht?«
    »Dann hätte ich das Kästchen nicht mehr.« Und mit einer plötzlich ausbrechenden Heftigkeit packte der sechzehnjährige Knabe das Mädchen am Arm und zog es wieder herab ins Gras. »Schwöre mir bei all deiner Seligkeit, beim Augenlicht deiner Eltern und dem himmlischen Segen«, sagte er dabei, »daß du niemandem etwas erzählst – auch nicht dem Abbé Bayons.«
    »André …«
    »Schwöre!« sagte er hart. »Oder ich verbrenne das Kästchen und leugne, es gefunden zu haben. Ich werde es dem Abbé geben, wenn ich alle Gedichte abgeschrieben habe, das verspreche ich dir. Und, nun schwöre!«
    »Ich schwöre«, fügte sich Jeanette Tergnier, und ihre fast schwarzen Augen waren trübe, als wäre ein Schleier darübergezogen. Ein wenig ängstlich befreite sie sich aus der Hand des Jungen und rückte etwas ab von ihm, als fürchte sie, er könne ihr mit weiteren harten Griffen blaue Flecken zufügen.
    »Ich habe das erste Gedicht, ein Lied, bereits abgeschrieben«, sagte er nun. »Es ist ein Troubadourlied. ›1166‹ stand darunter und der lustige Name ›Marcabrun‹.« Ein wenig lehrerhaft beugte er
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