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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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1    Gerade ist Sivke Carlsen einem Fremden begegnet, der seine Schuhe in die Luft wirft, sie bleiben in der Dunkelheit kleben, als befände sich dort eine Loipe, ein unsichtbarer Pfad. Der Fremde, dessen Gesicht sie nicht erkennen kann, ist in eine Uniform gehüllt, er scheint groß zu sein, wenn auch sehr schmal, die Kleidung liegt nirgends an, sondern steht vom Körper ab, wie ein Brett. Er verirrt sich öfter auf die Erde, weil dem Himmel in Wahrheit keine Grenzen gesetzt sind, im Flug ist die Eindeutigkeit der Ebene aufgehoben und macht einer Mehrdeutigkeit Platz, die die Verbindung zwischen den Augen und dem Gehirn kurzschließt, plötzlich ist es möglich, Schlitten in die Höhe zu werfen, so dass sie am Firmament kleben bleiben und man eine Fahrt über den Himmel antreten kann, die sich anfühlt wie eine Fahrt im Schnee: Etwas leiser ist es hier, es dominieren vereinzelte Vogelstimmen, das Rauschen des Windes ersetzt das Rauschen des Meeres, und die Kufen gleiten wie auf frischem Schnee, genauso geräuschlos.
    Ich heiße Jens, sagt der Polizist und schlüpft in seine Stiefel, ich bin für ein halbes Jahr hier, hört sie und schiebt ihre Konkurrenz beiseite. Fragt ihn, ob er mit ihr tanzen wolle, wartet seine Antwort nicht ab, sondern gräbt sich Kopf voran in seine Arme, während sie sich erzählen lässt, dass er seit einem Monat in Amarâq sei, er komme von einem Einsatz im Sudan und sei mit seinen Kollegen die Westküste Grönlands entlanggesegelt, über die Südspitze in den Osten, und sie rückt mit ihren Lippen etwas näher an seine heran, bis sie bloß einen Fingerbreit von ihm getrennt ist, so spricht sie weiter, vielleicht sagt sie, er gefalle ihr, vielleicht antwortet er, sie sei sehr hübsch, aber im Grunde geht es nicht um das, was gesagt wird, sondern darum, die sanft geflüsterten Nebentöne herauszufiltern, so dass nur eine Botschaft übrigbleibt: Nimm mich mit .
    Sogar im Schlaf tanzten, zuckten sie, während manche über sie hinwegstiegen, -hüpften oder -stolperten oder an der Grauen Bar lehnten, deren Sortiment ausschließlich aus Tuborg und Coca-Cola bestand, die Rundung an Rundung im Regal wachten, unförmig, kleine Bomben aus Aluminium. Andere tranken an den runden Tischen, die in hoher und tiefer Ausführung in einem Halbkreis um die Tanzfläche angeordnet waren, auf das Ende des Tages, auf das Ende der Woche, bis zum Ende des Geldes. In dieser Säulenhalle werden Affären begonnen und beendet, in diesem Säulenzimmer, das sich Pakhuset nennt, Lagerhaus. Man findet es in der dunkelsten Ecke des Hafens, am Hafenmund, dort, wo die Glühbirnen in den Straßenlaternen nicht ausgewechselt werden, wenn sie ausfallen.
    Doch das Pakhuset ist mehr als eine Diskothek, ein Nachtclub, eine Bar, es ist ein Angriff auf die Stille Amarâqs, ein Angriff auf die Isolation und als solcher ein Ort der Gegenwart: Alles, was hier passiert, passiert jetzt. Indem er die Einsamkeit aussperrt und das Leben einsperrt, hat er sich in den Köpfen der Bewohner festgesetzt als die einzige Möglichkeit, der Vergangenheit und der Zukunft zu entkommen, in diesen fünf Stunden, zwischen zehn Uhr nachts und drei Uhr morgens.
    Julie Hansen ließ sich von Jens auf die Tanzfläche ziehen, obwohl sich ihr Körper der Musik verschloss, nicht einmal die Ränder des Liedes traf, er musste sie steuern, Kurven lenken, Linien und Kreise, damit sie halbwegs den Rhythmus erkannte, sie bemerkte nicht, dass es ihm einzig darum ging, den Abstand zu verringern, näher zu rücken, mit jedem Schritt, bis er so dicht vor ihr stand, dass seine Augen jede Aussicht versperrten. Sie blieb stehen, wurde angerempelt, takteweise mitgezerrt, man stieg auf ihre Zehen, Schuhe, trotzdem stand sie still, atmete so flach wie möglich, vielleicht glaubte sie, den Blick nur halten zu können, wenn sie sich nicht bewegte. In diesem Moment war ihre ganze Existenz auf einen Blickkontakt geschrumpft und sie nicht mehr als die Summe ihrer Augen. Sie versuchte diesen Augenblick fest zu stehen, fest zu atmen, und es gelang ihr, die Geschwindigkeit der Zeit zu drosseln –
    bis er sich ihrem Mund näherte und sie mit seinen Lippen festhielt.
    In seinem Dienstauto verlassen sie den Hafen auf der schmalen gewundenen Straße, in einer Schleuse, in der es auch tagsüber, im Sonnenlicht, dämmrig ist. Sie fahren durch eine vermummte Stadt, die selbst im Sommer eine Stadt des Winters ist: Sogar wenn die letzten Anzeichen von Eis verschwunden sind und man glauben
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