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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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manches keinen Einfluss mehr auf die Gegenwart hat, tot und überflüssig. Und als Pia Lund eine Schlaftablette schluckte, um wie an jedem Nachmittag zwischen ein und fünf Uhr wie ein Stein zu schlafen und durch nichts geweckt zu werden, erst recht nicht durch eine spielende, kreischende Sechsjährige, verstand Sara, nachdem sie die vier Stunden weinend am Bett der Mutter gesessen hatte, dass es möglich war, eine Zeitlang tot zu sein und wieder zum Leben zu erwachen: Sie verstand, dass man das Sterben planen konnte.
    Seit diesem Tag identifiziert sich Sara mit den Toten, nicht mit den Lebenden.
    Sie würde am Leben bleiben, schrieb sie in ihr Tagebuch, sie wolle nicht die Gelegenheit versäumen, Henning wiederzusehen, denn es sei ihnen vorherbestimmt, glaubte sie, einander immer wieder zu begegnen, das war das Wort, das sie benutzte, es sei Schicksal gewesen, dass sie einander über den Weg liefen, und es sei ihr Schicksal, es wieder zu tun. Schicksal ,
    Es kam tatsächlich zu einer Begegnung, aber sie verlief anders, als Sara es sich ausgemalt hatte. Henning saß in einem Café an der Frederiksborggade, neben ihm eine junge Frau, eine Kolumbianerin, Henning hatte eine neue Kultur gefunden, die ihn die nächsten drei Jahre beschäftigen würde. Sie lachten und waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie Sara nicht bemerkten –
    die eine Woche lang unansprechbar war.
    Sie war in sich selbst verlorengegangen, dann, plötzlich, kehrte sie zurück, packte den großen Reiserucksack und buchte einen Flug nach Amarâq.

5    Ein zweiter Schuss fällt.
    Diesmal weiß Sara, dass sie ihn sich nicht eingebildet hat, denn sie hat ihn klar und deutlich durch das offene Fenster gehört, doch diesmal interessiert er sie nicht. Sie lehnt am Fensterrahmen, hat sich in ihrem Kopf zusammengerollt.
    Inzwischen taumelt Idi noch immer an den Rändern des Dachesentlang, als ihr Blick auf die Erde fällt und sie zunächst nicht weiß, was sie sieht, und sich wegdrehen möchte, ihre Neugier aber geweckt wird, als sie einen Schuh erkennt, einen Sportschuh mit grüner Sohle, und er ihr bekannt vorkommt, schrecklich bekannt. Und sie hockt sich hin, um ihn genauer sehen zu können, und als das nichts nützt, setzt sie sich hin, und als auch das nichts nützt, legt sie sich flach auf den Bauch, robbt ganz nah an die Kante heran und lässt ihren Kopf hängen, so tief es geht –
    so erkennt sie, dass der unförmige Fleck, das amorphe Gebilde, ein Mensch ist, und während die Katzenaugen auf dem Jackenrücken weißlich leuchten, durchfährt sie das Wissen, dass es Anders ist, der auf der Erde liegt, und in einem ersten Reflex freut sie sich, denn ihr fällt ein, dass sie ihren Cousin gesucht hat, und sie möchte ihm zurufen, zu ihr auf das Dach zu kommen, dann aber holt sie der Gedanke ein, dass die dunkle Lache um Anders’ Kopf Blut sein könnte, und sie bleibt auf dem Dach liegen, regungslos, starr, doch sie sieht ihn längst nicht mehr, ihre Augen haben ihre Funktion aufgegeben, und nicht nur sie, ihr ganzer Körper ist erblindet.
    Dass sich die Erinnerung dermaßen verschließt, nicht einmal hervorlugt, sich stattdessen in eine unförmige, konturlose Masse verwandelt hat, durch die hin und wieder ein heller Strahl blitzt und eine Chronologie andeutet, ein Vorher und Nachher, hätte Sara nicht für möglich gehalten; dass sie die Form und Farbe der Nächte Amarâqs annehmen kann, die in ihrer Dichte und Größe eine Dimension der Allgegenwärtigkeit erreichen, die schwer zu verstehen ist.
    Es muss so sein, denkt Sara, dass, wenn die Dinge zu Ende gehen, auch die Erinnerungen verschwinden, eine nach der anderen, denn im Grunde sind es die Erinnerungen, die die Dinge lebendig machen. Ohne Erinnerungen gäbe es sie nicht, sie verbessert sich, ohne Erinnerungen hätten sie nicht die Bedeutung, die sie haben und wären schon in dem Moment, in dem sie sich ereignen, ungültig –
    sie öffnet das Tagebuch und beginnt, Seite für Seite herauszureißen. Sie weiß nun, warum sie es bis jetzt nicht über sich brachte, zu sterben: weil sie Erinnerungen sammelte, sie schloss nicht ab, sondern auf.
    Wenn ich schweige, denkt sie, wird die Erinnerung verblassen, sie ist ohnehin fast nicht mehr da, vergeblich versuche ich, meine Kindheit zu sehen, nicht einmal die letzte Woche meldet sich zurück, alle Bilder gingen verloren in dieser einen grönländischen Nacht, die um so vieles dunkler ist als die Nächte anderswo.
    Sobald die Erinnerung
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