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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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gehen lassen würde, denn würde er gehen, wäre auch sie nicht mehr da.
    Diese Verbindung eine Besessenheit zu nennen war nicht übertrieben: Wie eine Besessene hatte sie ihre Zeit damit verbracht, Todesarten zu sammeln. Sie hatte sich ein Skalpell in einem Fachgeschäft für Mediziner besorgt, weil es ihr eine Zeitlang angenehmer erschienen war, zu verbluten. Dann hatte sie diese Idee verworfen, da sie sich nicht sicher sein konnte, schnell gefunden zu werden, und das Bild einer blutleeren, verwesenden Leiche war eine Vorstellung, die sie störte. In ihrer Sammlung befanden sich außerdem ein Haken und der dazugehörige Strick, Rattengift, Lauge, die Augentropfen ihrer Mutter, der Revolver ihres Vaters und Schlaftabletten. Auch achtete sie darauf, ihre Spuren zu verwischen, sie wollte nicht entlarvt werden als eine, die eigentlich des Lebens überdrüssig war. Also legte sie zur Tarnung Fotoalben an, aber oft vergaß sie, dass sie sie füllen musste, dass es ihre Pflicht war als Lebenswillige Erinnerungen anzuhäufen. Aus schlechtem Gewissen verbrachte sie die folgenden Tage damit, alles aufzunehmen, was ihr vor die Linse lief, die Fotos sah sie sich jedoch nie an, denn die Erlebnisse bedeuteten ihr nichts.
    Zudem stellte sie fest, dass sie sich kaum je ärgerte, ihr Enthusiasmus für die Welt ließ zu wünschen übrig, sie verriet sich mit ihrer Gleichgültigkeit, die viel zu fundamental war, als dass sie von einem normalen Menschen stammen konnte, so lernte sie, Gefühlsausbrüche zu simulieren, Emotionen vorzutäuschen, sie lächelte automatisch und galt als sonnig, in traurigen Filmen drückte sie sich gegen den Kinogänger neben ihr und galt als sentimental, sie aß viel schneller, als sie eigentlich wollte, schaufelte die Mahlzeiten in sich hinein, schmatzte laut und galt als Genussmensch. Sie streute Indizien, wann immer sie daran dachte. All dies waren Versicherungen, dass sie die Freiheit zu sterben, die ihr wichtiger war als alles andere, nie aufgeben musste.
    Im Grunde hatte sie sich schon lange vom Leben verabschiedet: Seit Jahren löste sie ihren Haushalt auf, verschenkte ihren Besitz, in der Wohnung befand sich bloß noch das Nötigste –
    bis ihr Henning begegnete, und sie sich in ihn verliebte. Er fügte ihr mit der Trennung, die keine war, sondern ein Verschwinden (er reagierte von einem Tag auf den anderen nicht mehr auf ihre Anrufe, sondern schlüpfte aus ihrem Leben, als wäre er an einer Haltestelle ausgestiegen), einen Schmerz zu, vor dem sie sich geschützt geglaubt hatte, durch ihren Plan, der aber, als sie sich in dieser Traurigkeit eingeschlossen sah, mit einem Mal undurchführbar war. Sie konnte sich nicht rühren, nicht sprechen, weinen, essen, einzig schlafen und starren, und hoffen, ja, hoffen.
    Diese Hoffnung machte sich über ihren geheimen Vorrat lustig, die Schlaftabletten, die sie im Lauf der Jahre gehortet hatte, zum Teil aus den Hausapotheken der Eltern und Verwandten gestohlen. Den Rest hatte sie sich von vier verschiedenen Ärzten verschreiben lassen, alles in allem siebenundneunzig Pillen, sie hatte sie gezählt.
    Damals fing sie an, alles zu notieren, was ihr einfiel, was sie beobachtete und worüber sie nachdachte, sie begann, einen Dialog mit sich selbst zu führen, und doch dachte sie, während sie die Sätze aufschrieb, an Henning, und sie dachte, dass es unsinnig war, sterben zu wollen, wenn es doch die Möglichkeit gab, ihn wiederzusehen, und sie stellte ihre fixe Idee in Frage, unterzog sie einer Untersuchung, der sie nicht standhalten konnte.
    Sara folgte den Spuren ihrer Erinnerung, schriftlich, immer schriftlich, und gelangte zu dem Schluss, dass ihr der Tod das erste Mal in Form eines Bildes begegnet war, das gerahmt an der Wohnzimmerwand, direkt neben dem Telefon, gehangen hatte, ein Porträt ihres Vaters, den sie nie kennengelernt hatte, der ihr aber, in Schwarzweiß, so schrecklich tot erschienen war, dass von diesem Moment an in ihrer Vorstellung alle Menschen ihre Farben verloren, sobald sie gestorben waren. Auch das Totenreich, das sich am Grund des Meeres befinden sollte, war ein Raum jenseits aller Farbigkeit.
    Später, nach ihrem Umzug nach Kopenhagen, begegnete ihr der Tod wieder: in Form von vergilbten Fotografien, die bereits in der Diele daran erinnerten, dass das meiste im Leben tot ist, die toten Menschen, die man kannte und auf deren Existenz man die eigene aufbaut, die toten Bücher, die die Basis des Wissens bilden, das Vergangene, von dem so
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