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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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Mensch müsse sterben, es sei denn, die entführte Seele würde gefunden und zurückgegeben werden. Die Seele sehe ihrem Besitzer ähnlich, hatte Iven gesagt, sie sei kleiner und, an dieser Stelle war seine Stimme rauer geworden, eckiger, er habe als Kind die Seele seiner Schwester gesehen, während sie schlief, er habe gesehen, wie sie über ihrem schlafenden Körper geschwebt sei, lang ausgestreckt, sie habe die Bewegungen seiner Schwester mit einer kurzen Verzögerung imitiert, als wäre sie eine Verlängerung, ein Ausläufer, an den Köpfen aber seien die Seele und seine Schwester verbunden gewesen, Kinder, hatte er hinzugefügt, hätten diese Gabe, und er, hatte er mit einem Blick auf Anders gesagt, besitze sie auch.
    Die Beschäftigung mit der Seele hatte es Familie Tukula angetan: Von einem Urahn erzählten sie sich, dass dessen Seele in beliebige Körper hinein- und wieder aus ihnen herausschlüpfen und er deswegen von seinen Gegnern nie getötet werden konnte, dieser Urahn, ein Mörder, der bei den Dänen unter dem Namen Anders bekannt war, habe sich im Greisenalter in einen Bergwanderer verwandelt, der weder lebendig noch tot war, unsichtbar für menschliche, sichtbar für unmenschliche Augen, und all dies habe sich zu einer Zeit zugetragen, als sich die Männer bei jeder Mondfinsternis in ihren Hütten versteckten, aus Angst, vom herabgefallenen Mond gefressen zu werden.
    Es habe einige Bergwanderer in ihrer Familie gegeben, hatte sein Vater gesagt, sie alle seien eines Tages aufgebrochen, in der Morgendämmerung, und nie wieder zurückgekehrt. Von einem Großonkel habe man die gefrorene Leiche gefunden, seine Seele habe wohl keine Zeit mehr gehabt, in den Körper zurückzukriechen.
    Erst Jahrzehnte später, als die Bauarbeiten der Amerikaner begannen, die ersten Militärbaracken errichtet wurden und die ersten Soldaten ihre neuen Quartiere bezogen, seien Schlingen geknüpft worden, doch die meisten Toten habe es in den Jahren danach gegeben, nach der Umsiedlung nach Qaanaaq im Nordwesten, nach den Monaten in den Notunterkünften, in Zelten aus dünnen Plastikplanen, die dem Wind und Regen nicht standhalten konnten, weil sie nicht für den Norden Grönlands gefertigt worden waren, sondern für die Ebenen, Wälder und Hügel Amerikas, an dieser Stelle hatte er sich geräuspert und gesagt, er habe sich die Vereinigten Staaten immer tropisch vorgestellt, ein Land, in dem nichts anderes getragen würde als kurze Hosen und Hemden.
    Ihrer Familie sei es relativ gut ergangen, hatte Iven zu Anders gesagt, an einem dieser Abende, wenn die Sätze wie von selbst ihren Weg zur Zunge finden und nicht angelockt werden müssen, an einem dieser Abende, wenn es draußen stürmt und regnet, der Schwarztee aus der Thermoskanne dampft und die Glühbirne in der Lampe über dem Couchtisch von Zeit zu Zeit flackert, weil sie nicht mehr lange halten wird –
    an einem solchen Abend wird gesprochen, weil man plötzlich spürt, dass Worte leben.
    Sein Großvater, hatte Iven gesagt, sei Teil der dänisch-amerikanischen Spezialeinheit während des Krieges gewesen. Sie hätten im ganzen Nordosten mit Hundeschlitten patrouilliert, sein Großvater und seine Kameraden, und während einer dieser Touren hätten sie entdeckt, dass die Deutschen versuchten, eine Wetterstation aufzubauen, natürlich hätten sie sie angegriffen und verjagt, hatte sein Vater gesagt und sich nicht die Frage gestellt, wohin. Die Spezialeinheit habe die traditionelle grönländische Kleidung getragen, ganz in Weiß, und sie hätten sich an ihre Gegner angeschlichen, als wären diese Robben, so hätten sie sie überwältigen können, und er hatte Anders vorgemacht, wie man sich anzuschleichen habe, er war vor dem Couchtisch hin und her gesprungen, währenddessen aber hatte er geschwiegen, manchmal war ihm ein lautes Schnaufen entkommen, und fast hatte Anders gedacht, sein Vater habe den Verstand verloren, wie er so zwischen der Couch und den Stühlen umherlief, sich bückte, mit seinem Körper eine Wellenlinie formte und zwischen den Tischbeinen untertauchte.
    Am nächsten Morgen fand Svea-Linn Ivens Leiche. Er hatte sich im Zimmer im Obergeschoß erhängt, in halb kniender Stellung, beide Füße auf dem Boden. Der Strick, der in einer Schlinge um seinen Hals lief, war mit einem komplizierten Knoten am Dachbalken befestigt. Dort befand sich noch eine zweite Stelle, an der die Staubschicht verwischt und das Holz nach beiden Seiten ausgefasert war: Er war beim ersten
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