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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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PROLOG
Montag, 14. Januar 2008, Berlin
Der größte Feind, den ein Mann haben kann, ist die eigene Angst.
Malcolm X
    Es ist bitterkalt, so kalt wie es an einem Januartag in einer Berliner Nacht nur sein kann. Brüchige Wohngebäude, angesprühte Häuserfassaden kesseln mich ein wie eine feindliche Armee. Die Straßenlaternen mit ihren gewölbten Lampenhüten hauchen der schäbigen Neuköllner Schierker Straße unbeabsichtigt Pariser Flair ein. Ich zittere am ganzen Leib und glühe zugleich wie ein dampfender Ofen. Das Adrenalin rast wie ein führerloser Zug durch meine Blutbahnen. Mein Mund fühlt sich trocken an, meine Zunge spröde, als wäre sie mit schuppiger Fischhaut überzogen. Schweißtropfen perlen über meine Stirn, tropfen herunter und vermischen sich mit dem nassen matschigen Boden. Die pechschwarze Knarre glänzt im fahlen Laternenschein. Nur wenige Zentimeter trennen mich von ihrem Lauf. Mein Gegenüber ist kaum größer als ich, trägt schwarze Lederhandschuhe – keine Fingerabdrücke, keine Beweise im Fall der Fälle. Er ist vermummt, nur die dunklen Augen starren mich aus den Löchern der Stoffmaske an – ein Blick, leer wie ein sternenloser Nachthimmel. Dann brüllt der Maskierte mich an, es klingt wie das Bellen eines tollwütigen Köters. Drohungen, Befehle, Beleidigungen – wahllos aneinandergereiht, ohne Sinn. Was er will, verstehe ich nicht, warum er die Waffe auf mich richtet, weiß ich nicht. Der Unbekannte fuchtelt mit der Pistole herum, schaut nach rechts, schaut nach links, drückt sie gegen meine Brust. Beinahe kann ich sie spüren, die Kugeln aus Blei. Wie wird es sich wohl anfühlen, wenn sie die schützende Haut zerreißen und sich in mein Herz bohren? Der Gedanke an die Schmerzen jagt mir einen Schauer über den Rücken.
    Plötzlich regt sich etwas am Ende der Straße. Ich verenge meine Augen zu Schlitzen und erkenne eine dunkle Gestalt – es ist mein Freund Haydar! Er bleibt ruckartig stehen, neigt den Kopf nach vorne, erkennt die Situation, lässt seine Zigarettenschachtel fallen und rennt in unsere Richtung, als wäre der Teufel hinter ihm her. Der Hoffnungsschimmer in meinen Augen verrät mich, der Maskierte dreht sich um, seine Waffe wackelt, er zögert einen Augenblick … er scheint … ja, er ist unentschlossen. Ich sollte ihm die Knarre aus der Hand schlagen. Genau jetzt – in dieser Sekunde – habe ich die Möglichkeit, für mich selbst einzustehen, zu handeln und Mut zu beweisen, doch die Angst schleicht sich wie ein Betäubungsmittel in meine Muskeln und setzt meinen Körper außer Gefecht. Ich versage, denn ich bin starr wie ein Stein – unfähig, mich von selbst zu rühren. Der Fremde umschließt mit beiden Händen die Pistole und steht da wie ein Gangster aus einem Hollywoodstreifen: breitbeinig, mit Lederhandschuhen und Maske. Alles ist still. Kein Wagen fährt vorbei, kein Windstoß erschüttert die Baumkronen, kein Geräusch, keine Bewegung. Nur das Klopfen meines Herzens. Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, weil der Sauerstoff in meinen Lungen fest wird, fest wie eine trocknende Betonmasse. Sekunden werden zu Minuten, Minuten zu Stunden – bis ein markerschütternder Knall die Stille durchbricht. Die erste Kugel rammt sich in mein Fleisch und wirft mich zu Boden, als hätten sich zehn Mann auf mich gestürzt. Drei weitere Schüsse fallen. Der Schmerz kriecht wie ein Schlange in mich hinein, ich brenne von außen wie von innen. Jeder Atemzug bereitet mir Höllenqualen, es ist, als würde ich Messerklingen schlucken. Eine warme Lache aus dickflüssigem Blut bildet sich unter meinem Körper. In diesem Moment kommen mir Babas Worte in den Sinn. »Allah gibt, Allah nimmt« – mit vier Worten hatte er mir Leben und Tod erklärt. Ich will mir mein Leben nicht wegnehmen lassen. Noch nicht. Es hat gerade erst angefangen, es darf nicht zu Ende gehen. Nicht jetzt. Hundert Gedanken flattern, wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel, durch meinen Kopf.
    Warum geschieht das? Hätte das nicht passieren können, als ich noch ein Niemand war und ein Ende geradezu herbeisehnte? Früher war alles anders. Früher wäre das nicht passiert. Früher hatte mich niemand erschießen wollen. Früher war ich ein Niemand . Niemand will einen Niemand erschießen. Ohnmacht kündigt sich an, und der Schmerz lähmt meine rechte Körperhälfte. Ich beiße die Zähne zusammen und schaue hoch in den Nachthimmel, wo die Sterne zu leuchtenden Punkten am Firmament
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