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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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Blick habe sich geändert: Alles war deutlicher, schärfer, und er sah mehr als zuvor. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob nur ihm Amarâq so neu, so fremd vorkam, oder ob sich die Stadt tatsächlich verwandelt hatte. Er wusste nicht, was er zuerst ansehen oder anfassen sollte, und jedes Mal, wenn er auf den Fjord blickte, in dem die wenigen Eisberge im Sommer schwammen und schmolzen, fühlte er eine Ruhe, die er in dieser Form nicht gekannt hatte, nicht seit er davon geträumt hatte, Filme zu schreiben, zu drehen und mit ihnen die Welt zu bereisen, die Welt aber interessierte ihn nicht mehr –
    als er im Supermarkt, noch im Eingangsbereich, in Sivkes Ellbogen lief und sie sich mit einem Ruck umdrehte, dabei fast auf ihn fiel, ein Aufeinanderzufallen statt einer Begrüßung, das in ein überraschtes Schweigen mündete.
    Sivke hastete durch das Drehkreuz ins Geschäft. Lars folgte ihr, sprach sie an, versuchte sie festzuhalten, sie wand sich aus seinem Griff, nahm ein paar Lebensmittel aus den Regalen, wahllos, wie er meinte, bezahlte und ging. Er sah ihr nach; er wollte es später noch einmal versuchen, vielleicht wäre sie dann bereit für ein Gespräch. Er wartete vor ihrer Haustür, klopfte an, niemand antwortete, so wartete er weiter, auf dem Boden hockend, jeden Tag, vor und nach der Arbeit, in der Hoffnung, sie würde mit ihm sprechen, aber sie wich ihm aus, verfolgte seine Bewegungen durch das Fenster und verließ das Haus nur, wenn er nicht mehr zu sehen war. Es war ein Tanz, den sie miteinander und umeinander vollführten, Lars versuchte sie einzukreisen, sie versuchte aus seinem Kreis auszubrechen, und so verschlangen sich ihre Bewegungen, aber sie berührten einander nie, es kam zu Überschneidungen, aber nie zu einer Verknotung.
    So erfuhr Lars von den Bewohnern der Stadt, dass Sivke Janus gefunden hatte und daraufhin nicht mehr ansprechbar gewesen war; dass sie wie von Sinnen war und weggebracht werden musste; dass sie einen Monat lang nur vor sich hingestarrt, im nächsten nur geweint, sich aber geweigert hatte, mit jemandem zu sprechen, weder mit der Sozialarbeiterin noch mit der Psychologin; dass man sie unter Hausarrest und Aufsicht stellen musste, weil man nicht sicher war, ob sie sich etwas antun würde, und obwohl Johanna, die Tag und Nacht bei ihr wachte, sich schließlich auch noch den kürzesten Schlaf versagte aus Angst, ihre Nichte würde die halbe Stunde nutzen, um sich umzubringen, schaffte Sivke es, ein Seil an den Türgriff zu knüpfen und um ihren Hals zu schlingen –
    wäre Julie nicht gewesen; ein eigenartiges Geräusch, ein Klopfen, abgelöst von einem Schaben und Scharren, führte sie zum Zimmer ihrer Cousine, und da sich die Tür auf den Gang hinaus öffnete, brauchte sie nur die Klinke hinunterzudrücken, um ein Leben zu retten.
    Daraufhin beschloss man, Sivke fortzuschicken, und mit ihrer Abreise verschwand die Unruhe, die sie über Amarâq gebracht hatte, und die Atmosphäre der Angst löste sich auf.
    Lars traf Sivke wieder, als er einen Anruf von der Polizei bekam und man ihn bat, ein Mädchen abzuholen und auf es aufzupassen, bis seine Familie käme und es mit nach Hause nehme.
    Es war Julie, in Decken gewickelt, eingemummt, in Tränen aufgelöst; sie lehnte an Torben, dem Polizisten, der jedes Jahr für sechs Monate nach Amarâq kommt und jedes Mal bei seiner Ankunft den Ehering in seiner Hosentasche versteckt.
    Was geschehen sei, fragte ihn Lars mit einem vorsichtigen Seitenblick auf Julie. Der Vater, sagte Torben und verbesserte sich, der Stiefvater hat sie vergewaltigt, die Mutter will es aber nicht wahrhaben. Jens, rief Torben und wedelte mit einem Blatt Papier, legst du bitte den Bericht ab? Der Neue, sagte er zu Lars, er ist gestern angekommen und muss sich einarbeiten, du hast nicht zufällig ein Zimmer, das du vermieten möchtest? Torben grinste. Julie versteckte sich in der Decke, verbarg ihr Gesicht, und auch wenn sie manchmal kurz aufsah, antwortete sie nicht und tauchte im Stoff unter, als Jens sich zu ihr drehte und fragte: Geht es wieder?
    Sie ist schüchtern, lass sie.
    Torben gab Jens einen Schubs in Richtung Kopierraum, Jens nickte und verschwand. Die Neuen, sagte Torben kopfschüttelnd und fügte hinzu, Lars solle Julie bei sich im Kinderheim behalten, bis ihre Cousine käme und sie abhole.
    Die Mutter haben wir abgeschrieben.
    Als Lars Julie seine Hand hinstreckte, nahm sie sie nicht, sie sah kaum aus der Wolldecke hervor und wollte diese auch nicht
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