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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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sie, das Paar, nicht mehr geben, wozu den Freund verletzen, und seine Stimme klang hart, selbst in den eigenen Ohren –
    und er reiste ab, flog mit dem Hubschrauber nach Ittuk und von dort aus in den Westen, und er hörte lange nichts von Janus und Sivke, erst wieder im November: Sie wolle es abtreiben, schallte Janus’ Stimme aus der Muschel, sie wolle es nicht behalten, was?, fragte er, sein Kind, sagte Janus, sie habe ihm vor einer Woche gesagt, dass sie schwanger sei, aber dass sie es nicht behalten wolle, er habe versucht, es ihr auszureden, aber sie sei nicht umzustimmen gewesen. Warum, fragte Janus, möchte sie mein Baby nicht?, und es klang, als fragte er, warum möchte sie mich nicht?
    Anfang Dezember kam der zweite Anruf von Janus, der sagte, er habe keine Lust mehr weiterzuleben, er werde sich umbringen, und wütend auflegte, als Lars versuchte, ihn davon abzubringen.
    Kurz vor Weihnachten rief Kiiki an, die Lars besorgt fragte, ob Janus bei ihm aufgetaucht sei, er sei verschwunden, ob er sich bei ihm in Nuuk gemeldet habe? Nein, sagte Lars.
    Ende Februar, als es wochenlang ungewöhnlich mild für einen ostgrönländischen Winter war, so warm, dass die Pflanzen im Tal der Blumen anfingen zu treiben und die Eisdecke des Fjords nicht wachsen wollte, sondern im Gegenteil schrumpfte, meldete sich Kiiki wieder. Sie hätten Janus gefunden, sagte sie, seine Leiche sei angeschwemmt worden. Angeschwemmt, fragte Lars? Janus habe sich ertränkt, sagte sie und legte auf.
    Dem vierten Anruf folgte der fünfte und letzte, von Sivke, die sagte, sie habe ihm alles gestanden, Janus habe von Lars und ihr gewusst.
    Anfangs glaubte Lars nicht, Janus könnte sich ihretwegen umgebracht haben, anfangs glaubte er, Janus sei deprimiert gewesen, früher oder später wäre es sowieso geschehen, er habe eine melancholische Veranlagung gehabt, dazu käme noch die Familiengeschichte, Janus’ Schwester, die sich auch ertränkt hatte. Später aber, als die Erkenntnis in ihm Wurzeln schlug, dass Janus möglicherweise deswegen tot war, weil er die Wahrheit gekannt hatte, wurde Lars diesen Gedanken nicht mehr los, und er konnte nichts dagegen tun, als ihm Nacht für Nacht ausgeliefert zu sein. Damals träumte er von seinem Freund, der ihn ansah, obwohl er sich von ihm weggedreht hatte, und ihn anflehte, zu ihm zu kommen, und Janus’ Stimme dröhnte in Lars’ Ohren, als spräche er direkt in seinem Kopf. Diese Bitte, die anfangs noch absurd geklungen hatte, wurde immer verlockender, je öfter Lars sie hörte –
    ist es nicht ein Trugschluss, zu glauben, dass das Leben eines Einzelnen Bedeutung hat, nur für sich betrachtet? Genauso wenig wie der Tod des Einzelnen Sinn macht, isoliert vom Leben der anderen.
    Als Lars in Amarâq ankam, wusste er nicht, dass er noch am gleichen Tag Sivke begegnen würde. Seit seiner Abreise vor einem Jahr hatte er versucht, ihr Bild jedes Mal, wenn es in seinem Kopf auftauchte, hinauszustoßen, als sei es dafür verantwortlich, dass Janus seine Träume besetzt hielt. Wann immer dies geschah, verbrachte er die Nacht im Daddys , einer Bar, die Freitag- und Samstagabend mit Countrymusik Scharen von Partymenschen anlockte. Unter der Woche allerdings war sie so ausgestorben, dass Lars gezwungen war, weiterzuziehen, so lange, bis er eine Frau fand, die sich abschleppen ließ –
    was im Grunde zu leicht war: Auf den Straßen, in den leeren Treppenhäusern, in den verlassenen Sackgassen brauchte er nicht lange zu suchen, diese Frauen, die am Erfrieren waren, gingen mit ihm, denn sie wollten ebenso dringend gefunden werden, wie er sie hatte finden wollen. So vergingen die Nächte, bis er zu spüren glaubte, dass er sie nicht mehr brauchte und allein schlafen konnte.
    Als er sich nicht und nicht von einer fiebrigen Erkältung erholte, ließ er sich im Spital untersuchen. Die Untersuchung ergab, dass er HIV-positiv sei, eine Nachricht, die ihn nicht überraschte, als habe er es schon die ganze Zeit gewusst oder sogar darauf angelegt; dass das Risiko hoch war, sich anzustecken, war ihm immer klar gewesen.
    Er buchte einen Flug nach Amarâq und packte seine Sachen. Seine Großmutter würde er auf jeden Fall noch gesundpflegen können, damit rechnete er, und an die weitere Zukunft dachte er nicht, und er hatte Glück, man bot ihm eine Stelle im Kinderheim an, sie war nicht gut bezahlt, er hätte in Nuuk eine bessere Arbeit bekommen, aber es war ihm richtig erschienen, heimzukehren.
    Kaum angekommen, meinte er, sein
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