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Mordskerle (German Edition)

Mordskerle (German Edition)

Titel: Mordskerle (German Edition)
Autoren: Renate Schley
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Prolog

    E r hatte von Anfang an gewusst, dass es keine gute Idee war, das Fahrrad zu klauen. Aber nun war es zu spät. Nun jagte er bereits seit zehn Minuten in scharfem Tempo über das Kopfsteinpflaster in der Fußgängerzone, immerzu darauf gefasst, dass eine donnernde Stimme plötzlich seinen Namen rufen und ihn die mächtige Faust des Gesetzes packen würde, um ihn zu Boden zu werfen.
    Der Junge, der Tim Valendiek hieß, den aber alle immer nur „Vale“ nannten, hatte eigentlich nur zufällig die Idee gehabt, das Rad mitzunehmen. Er konnte gewissermaßen gar nichts dafür. Der Einfall traf ihn gewissermaßen wie aus heiterem Himmel, warum, wusste er selber nicht.
    Natürlich war ihm klar, wem das Rad gehörte. Schließlich hockte er täglich auf den Stufen der Rathaustreppe – dort, wo sich die arbeitslosen Jugendlichen, die Punker und die Säufer trafen, ohne dass sie sich verabredet hatten. Allen gemeinsam war, dass sie immer irgendwie heimatlos, ziellos, ruhelos wirkten. Woran das lag, dafür hatte der Junge Tim allerdings auch keine Erklärung.
    Tim war Siebzehn und ohne Job. Seine Schulentlassung lag zwei Jahre zurück – Jahre, in denen er viele Male vergeblich versucht hatte, Arbeit zu finden. Den Gedanken an einen Ausbildungsplatz musste er ziemlich rasch fallen lassen, inzwischen wäre ihm jede Art von Beschäftigung willkommen gewesen. Keiner von den Jungen seines Alters, die auf der Rathaustreppe saßen, machte irgendeine Ausbildung. Sie hockten einfach nur da und schienen dabei auf irgendetwas zu warten, das aber nie geschah.
    Tim hatte aufgehört zu warten. Getrieben von Enttäuschung und der Monotonie seines Lebens erschien er irgendwann im Laufe des Vormittags auf dem Marktplatz, weil ihm nichts einfiel, wohin er sonst hätte hin gehen können.
    Andere Arbeitslose, Ausländer, Schulschwänzer kamen dazu – möglicherweise, weil zu Hause alleine gewesen wären oder auch, weil eine viel zu enge Wohnung von zu vielen Familienmitgliedern bevölkert wurde, so wie es bei Tim war. Sein Vater saß schon vormittags vor dem Fernsehapparat und hielt verblödende Talkshows für das wirkliche Leben, während er seine Frau und seine Kinder anschrie und dabei eine Dose Bier nach der anderen leerte.
    War es da noch verwunderlich, dass Tim sich schon längst nicht mehr fragte, wo und was das eigentlich war: Zuhause?
    Er hatte das Fahrrad zum ersten Mal gesehen, als er, auf der Suche nach der Tür mit dem Schild „Sozialamt“, durch das alte Rathausgebäude gerannt war. Einer wie er reagierte in solchen Situationen verstört, denn auf den langen, blank gebohnerten Fluren fühlte er sich unbehaglich, das war nicht seine Welt. Bis zu diesem Vormittag hatte er gar nicht gewusst, dass diese Welt überhaupt existierte. Er konnte sich nicht vorstellen, was die Menschen hinter den vielen geschlossenen Türen eigentlich taten, und wunderte sich, dass es auf den Gängen und Treppen so still war, obwohl doch jeden Morgen so viele Leute durch die Eingänge hinein strömten.
    Nachdem Tim sich rettungslos im Labyrinth der Korridore verirrt hatte, wagte er es, jemand nach dem Sozialamt zu fragen. Ihm wurde der Weg in den Anbau gewiesen. Dorthin gelangte Tim über eine Brücke mit einem gläsernen Dach, und als er einmal stehen blieb, um tief Luft zu holen, sah er im Hinterhof das Fahrrad.
    Er schloss es sofort ins Herz.
    Ja, es war gewissermaßen Liebe auf den ersten Blick, denn so, fand Tim, musste ein Fahrrad aussehen.
    Natürlich schwarz lackiert. Etwas anderes gab es für Tim nicht.
    Mit verchromter Vorderradgabel, vorn und hinten Schnellspanner.
    Lenkerbügel und Vorbau aus Alu.
    Hinten mit Kassettennabe.
    Gelöste Alu-Hohlkammerfelgen.
    Und selbstverständlich mit einer Rennbereifung 23 x 622.
    Ganz zu schweigen von der 14-Gang-Kettenschaltung.
    Tim stand dort auf dem Flur am Fenster wie in einem Traum verloren, sah das Rad an und dachte immer wieder, zweitausend Euro, das kostet ungefähr zweitausend Euro, und das war ja eigentlich keine schlimme Zahl, wusste er doch, dass die wirklich guten Räder noch teurer waren. Aber wann würde Einer wie er zweitausend Euro haben?
    Er besaß ja nicht einmal Hundert. Darum befand er sich ja auch auf dem Weg zum Sozialamt, und obwohl er keine Ahnung hatte, was dort passieren würde, sagte ihm eine innere Stimme, dass das Sozialamt ihn weiter schicken würde zur ARGE, denn so lief das immer seit einiger Zeit. Das Sozialamt war für ihn und seine Kumpels nicht zuständig. Vor
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