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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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nicht unter ihren Füßen biegen, dafür aber bedenklich schaukeln, sie kann gerade noch das Schwanken kontrollieren.
    Von oben tritt die wahre Identität des Labyrinths in Erscheinung. Es ist ein Meeresbecken mit einer Unterwasserlandschaft aus Regalen und Wühltischen sowie flachen Inselgruppen, Tiefkühltruhen, deren Oberfläche aus dem Wasser ragen würde, wäre das Meer nicht ausgelaufen und vertrocknet, vor vielen Jahren, nun ist es spurlos verschwunden, der Horizont ist geblieben, ein grauer Strich im weißen Himmel, der, entdeckt Idi, lediglich weiß auf Augenhöhe ist, hebt sie ihren Kopf, ist er ebenso grau wie der Horizont –
    und eine Treppe führt in seine Mitte.
    Treppen hatten es Svea-Linn angetan, aber auch Kanten, Fugen, Striche aller Art, sie folgte ihnen mit ausgestrecktem Zeigefinger, bis sie aus der Reichweite ihres Fingers verschwunden waren, vielleicht ging sie deswegen gebückt, vielleicht verformte sich deswegen ihr Rücken, weil sie sich immer zum Boden beugte, um die Linien besser zu sehen, denn ihre Augen wurden schlechter, je älter sie wurde. Als Kind hatte sie sich eine Brille gewünscht, sie wollte so aussehen wie ihre Lehrerin, als Jugendliche hatte sie noch immer keine Brille bekommen, obwohl ihre Umwelt langsam, aber stetig unschärfer geworden war, eigentlich zerronnen: als hätte man sie mit Wasser verdünnt.
    Svea-Linn war kleiner als die meisten ihrer Mitschülerinnen, ihr Körper hatte früh aufgehört zu wachsen, nicht aber ihr Kopf. Sie hatte schulterlange, glatte schwarze Haare, auf ihrer Oberlippe wuchs schwarzer Flaum, ihre Augen saßen schon fast auf der Stirn, und sie konnte sich nicht bewegen, ohne zu schaukeln; sie ging nicht, sie wankte. Sie war weder musisch noch mathematisch begabt, dafür besaß sie das Talent, sich vollkommen zu identifizieren, sei es mit einer Aufgabe, sei es mit einem Menschen. Von Svea-Linn geliebt zu werden bedeutete, niemals wieder einsam sein zu müssen, sie würde immer da sein, niemals würde sie den Geliebten verlassen, und immer würde sie wissen, was er dachte. Es hatte den Anschein, als würde sie sich in seinen Gedanken und Gefühlen besser auskennen als in ihren eigenen, und doch besaß ihre Liebe eine solche Substanz, gerade weil sie genau wusste, wer sie war, und nichts konnte dies erschüttern.
    Iven war der Jägerssohn von nebenan, dem Svea-Linn schon als kleines Mädchen versprochen worden war, und als sie sechzehn Jahre alt war, lösten ihre Eltern das Versprechen ein, und sie wurde Ivens Frau. Iven war das Gegenteil von Svea-Linn: Er war groß, kräftig gebaut, er ging nicht, er schritt, und er war ein schneller Läufer, guter Schütze, mit Augen, die besonders scharf in die Ferne sahen. Außerdem war er, wie die Bewohner Qertsiaks behaupteten, gutmütig, sanft, er ließ sich zu allem überreden, war für jeden Spaß zu haben, lachte laut und gerne, er sang, wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann lachte die ganze Runde, denn sein Jaulen war ohrenbetäubender als das der Hunde. Er war, nicht bloß auf den ersten Blick, so etwas wie ein perfektes menschliches Wesen, makellos, rein, unschuldig, und doch hatte er einen Fehler, den seine Familie verschwiegen hatte, er war mit ihm geboren worden, und alle männlichen Mitglieder seiner Familie waren daran gestorben: Er trug den Tod in sich.
    Schon mit neun Jahren, als Svea-Linn sich eine Brille wünschte, hatte Iven das erste Mal versucht, sich umzubringen, doch er hielt es nicht lange genug im kalten Wasser aus, nicht einmal eine Erkältung holte er sich. Mit vierzehn Jahren hatte er es das zweite Mal versucht, doch er schoss daneben, nicht einmal einen Kratzer brachte er sich bei. Mit sechzehn wurde er unterbrochen, als er versuchte, sich zu erhängen: Sein Vater kam ihm zuvor. Am Tag nach seiner Hochzeit erhängte sich sein ältester Bruder, und eine Woche, ehe dieser sich tötete, brachte sich sein Onkel um.
    Familie Tukula kam ursprünglich aus dem äußersten Norden Grönlands, eigentlich, hatte Anders’ Vater gesagt, seien ihre Vorfahren vom Westen in den Norden und von dort in den Osten gewandert, doch die Bräuche des Nordens seien an ihnen haftengeblieben, auch Legenden, Sagen und Vorstellungen wie jene, dass die Seele des Menschen sich nicht im Körper, sondern außerhalb befinde und dass sie dem Menschen folge wie ein zweiter Schatten. Lediglich Schamanen könnten sie sehen, und nur sie könnten die Seele vom Körper trennen, um sie im Schnee zu vergraben, und der
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