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Zuflucht Im Kloster

Zuflucht Im Kloster

Titel: Zuflucht Im Kloster
Autoren: Ellis Peters
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1. Kapitel
Freitag mitternacht bis Samstag morgen
    Es begann so, wie auch die schwersten Stürme beginnen: Mit einem kaum wahrnehmbaren Beben, einem leisen, so entfernten und doch so unheilschwangeren Geräusch, daß jeder, dessen Gehör scharf genug war, es zu vernehmen, sofort die Ohren spitzte und versuchte, alle anderen Geräusche auszuschließen, um sich allein auf diesen Ton zu konzentrieren und die Warnung zu verstehen. Wie ein Hase, der stets auf der Hut ist und Geräusche sehr gut zu orten weiß, besaß Bruder Cadfael ein ausgezeichnetes Gehör. Er vernahm das Geschrei, das zu diesem Zeitpunkt noch von der anderen Seite der Brücke, die über den Severn in die Stadt führte, herüber tönte, erstarrte zu gespannter Reglosigkeit und lauschte.
    Es hätte ein ganz harmloses Geräusch sein können. Zwar schwang etwas Blutdürstiges darin mit, doch mochte es natürlichen Ursprungs sein: der entfernte Jagdruf einiger Eulen oder das ungeduldige Bellen eines Fuchses, der durch sein Revier streifte. Das Wilde dieser Jagd war für Cadfaels Ohren jedenfalls unverkennbar. Und selbst Bruder Anselm, der Vorsänger, der sich ganz auf die Liturgie konzentrierte, ließ sich für einen Augenblick ablenken und sang einen falschen Ton, riß sich jedoch gleich darauf zusammen und nahm die Melodie wieder auf.
    Denn was hätte diese Mitternachtsmesse schon stören sollen, jetzt, in diesem freundlichen Frühling, kaum vier Wochen nach Ostern im Jahre des Herrn 1140, da Shrewsbury und die ganze Provinz sich des königlichen Friedens erfreute, mochten sich auch weiter im Süden König und Kaiserin, diese beiden um den Thron streitenden Verwandten, bekriegen? Es war ein sehr strenger Winter gewesen, aber er war gottlob vorüber. Am Ostersonntag hatte die Sonne geschienen und seitdem nicht aufgehört, die Erde mit ihrer Wärme zu verwöhnen, unterbrochen nur von vereinzelten, leichten Regenschauern, die diesen himmlischen Segen zu bekräftigen schienen. Nur weiter westlich, in Wales, hatte es schwere Regenfälle gegeben, die den Fluß hatten anschwellen lassen. Das Frühjahr versprach gut zu werden. Shrewsbury hatte einen strengen, aber gerechten Sheriff, und für die Rechte der Bürgerschaft traten ein einsichtiger Vorsteher und der Bürgerrat ein. In dieser Zeit des Bürgerkriegs hatten die Stadt und die Grafschaft, in der sie lag, allen Grund, Gott und König Stephen dafür zu danken, daß eine gewisse Ruhe und Ordnung herrschte. Eine Störung der klösterlichen Ruhe während der Mitternachtsmesse war hier gewiß nicht zu befürchten. Und doch hatte Bruder Anselm einen Augenblick lang den rechten Ton verfehlt.
    Im Dämmerlicht des Chors, den zu einem Teil der Gemeindealtar vom Hauptschiff der Kirche trennte und der nur vom Ewigen Licht und den Kerzen auf dem Hochaltar beleuchtet wurde, wirkten die Klosterbrüder auf den Bänken des Chorgestühls wie geschnitzte Figuren, wie eine Reihe gleichartiger Schattenwesen – Gestalten, deren Alter und Aussehen nicht zu erkennen war. Die Höhe des Gewölbes, die Säulen und Mauern aus massivem Stein, verwandelten Bruder Anselms Stimme in ein zauberisches Klanggewebe, das hoch über den Köpfen der Mönche schwebte. Wo Schatten und Kerzenschein endeten, herrschte Dunkelheit – bei Nacht war es hier drinnen ebenso finster wie draußen. Es war eine milde, friedliche und ruhige Nacht.
    Nein, nicht ganz ruhig. Das kaum wahrnehmbare Beben schwoll zu einem leisen, unablässigen Gemurmel an. Im Zwielicht unter der Chorbühne, rechts vom Eingang zum Chor, richtete Abt Radulfus sich auf seinem Sitz auf. Zur Linken raschelte Prior Roberts Kutte und verriet weniger innere Unruhe als vielmehr Mißfallen und Zurechtweisung. Eine kaum merkliche Bewegung ging durch die Reihen der Mönche und erstarb.
    Aber der Lärm kam näher. Selbst bevor er so laut wurde, daß eine Reaktion unumgänglich war, war die Wut, die in ihm mitschwang, unverkennbar. Etwas Drohendes, eine gefährliche Erregung, wie bei einer Jagd, ging von ihm aus. Es klang, als habe die Verfolgung den Punkt erreicht, da die Jäger der Vorhut das Wild bis zur Erschöpfung gehetzt haben und die Jagdherren herbeikommen, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Selbst auf diese Entfernung bestand kein Zweifel daran, daß ein Leben in Gefahr war.
    Das Geschrei kam jetzt schnell näher. Es war schwer, es zu ignorieren, obwohl der Vorsänger sich alle Mühe gab, seine Schäflein durch den Gottesdienst zu führen, und seine Stimme erhob und das Tempo
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