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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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Briefe an die unbekannte Adressatin
    Von Zeit zu Zeit stellt mir die Post unter meiner alten Adresse ein Schreiben der Bank zu, das für sie bestimmt ist; immer das verlockende Angebot eines Produkts oder einer Finanzdienstleistung. Das letzte enthielt eine neue Kreditkarte, gültig auf allen Kontinenten, ideal zum Buchen von Hotelzimmern und Flügen; all das, worauf sie heute ein Anrecht hätte, wäre ihr Leben nicht unterbrochen worden. Einfach unterschreiben und in dem frankierten Umschlag zurücksenden, hieß es im letzten Brief.
    Der Anblick ihres Namens auf dem Kuvert löst stets tiefe Betroffenheit in mir aus: Wie ist es möglich, immer wieder Briefe an einen Menschen zu verschicken, den es seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr gibt? Ich weiß, dass es sich nicht um böse Absicht handelt. Die Post und die Bank wissen nicht, dass es die Adressatin nicht mehr gibt; der Absender verbirgt sich nicht, im Gegenteil, er stellt sich stolz unter einem ansprechenden Logo dar. Sie, die Bank, ist der Inbegriff des Systems, einer in Marmor gehauenen falschen Solidität; die Bank, die Kundengeschäfte nicht mit Gesichtern und Menschen betreibt, sondern mit Computerlisten.
    Die Adressatin wird das Angebot niemals wahrnehmen, auch wenn keine Jahresgebühr anfällt, auch wenn sie Meilen sammeln und Zugang zu den VIP-Lounges der Flughäfen haben kann, all das, was sie haben könnte, aber nicht haben wird, all das, was es, als es sie gab, kaum gab und das ihr nun, da es sie nicht mehr gibt, angeboten wird; das Verlustinventar eines Lebensverlustes.
    Als ob die Briefe die versteckte Absicht hegten, zu verhindern, dass ihr Andenken in unseren Gedanken zur Ruhe kommt; als ob man uns aufgrund der Vernichtung ihres toten Körpers nicht nur die therapeutische Wirkung der Trauer verwehrt hätte, der Briefträger vielmehr ein Dybbuk wäre, dessen Seele keine Ruhe findet und der uns der Schuld und Unterlassung bezichtigt. Als ob man über den unnötigen Tod hinaus unser nötiges Leben zerstören wollte, dieses Leben, das fortbesteht und das uns von Kindern und Enkeln abverlangt wird.
    Wieso an meine alte Adresse? Ich malte mir aus, dass sie in einem dieser unsicheren Momente, in denen es um Flucht, Verstellung, abruptes Abbiegen an Straßenecken ging, der Bank meine Anschrift gegeben hatte, um nicht andere, zutreffende, wenn auch geheime, preiszugeben; ich fragte mich, in welchem Stadium der heraufziehenden Tragödie dies wohl geschehen war, welche Adresse oder Adressen, im Plural, sie damals hatte, denn wie ich später erfuhr, waren es viele, in der Annahme, somit das Schicksal überlisten zu können.
    Es handelte sich in der Tat nie um ein Heim, einen Ort, wo man Kinder großzog und Freunde empfing; es waren Antiheime, Katakomben, in denen man sich verstecken konnte, monatelang, wie die Christen in Rom, oder aber nur wochen- oder tagelang, bis einer geschnappt wurde und die Flucht, die hektische Suche nach einem neuen Versteck von vorne begann.
    Möglicherweise war das der Grund, weshalb sie nicht ihre damalige Geheimadresse angegeben hatte, sondern die Adresse des Hauses, in dem ich, meine Frau und meine Kinder dreiunddreißig Jahre lang gelebt haben; die Adresse, unter der heute mein ältester Sohn und mein Enkel wohnen, unter der ich mein Büro habe, meine Frau ihren Gemüsegarten hat und ihr Atelier und mein Enkel seine zwei kleinen Hunde und sein Spielzeug.
    Erst dann begriff ich, dass, hätte ich das Haus verkauft, wie ich es so oft beabsichtigt hatte, mir die Bezugspunkte der Hälfte meines Lebens verloren gegangen wären. Erst dann habe ich meinen ältesten Sohn verstanden, der nein gesagt hat, dieses Haus darf niemals verkauft werden. Für ihn ist dieses Haus der Ort, der die Gesamtheit seiner Erinnerungen birgt.
    Doch es war anders gekommen. Dieses Haus hatte sie nie kennen gelernt. Ich rechnete zurück und kam zu dem Schluss, dass sie bereits sechs Jahre lang verschwunden war, als wir diese verwohnte Behausung von portugiesischen Einwanderern gekauft haben. Nein, sie war nie in unserem Haus gewesen. Sie ist nie die steilen Treppenstufen des Vorgartens hinauf gestiegen. Hat nie meine Kinder kennen gelernt. Konnte nie die Tante ihrer Nichten und Neffen sein. Vor allem diese Auswirkung all dessen, was geschehen ist, hat mich immer besonders schmerzhaft berührt.
    Wenn dies nicht ihre Anschrift war, wer hat sie dann dem Regime in die Hände gespielt? Schleierhaft. Wieso klebte ihr Name an meiner Adresse in diesem nebulösen
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