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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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Bewegungen näherte. Er sah, wie er sich, wie vorab vereinbart, auf einer bestimmten Parkbank niederließ und die fünf Minuten abwartete, nie länger als fünf Minuten, so schreiben es die Sicherheitsregeln vor.
    Er selbst wartete keine fünf Minuten. Was er gesehen hatte, war ausreichend. Eine Falle. Alles sprach dafür, dass der Verbindungsmann selbst sich als Köder entpuppte. Aber der Verräter konnte ein anderer sein. Er selbst war der Koordinator dieses Stadtgebiets. Das Regionalkommando war auch im Bilde über die Kontaktaufnahme zu der Untergrundzelle.
    Was tun? Monate zuvor, als der Chef gefasst worden war, wäre die Lösung einfach gewesen. Es hätte genügt, die Niederlage zu akzeptieren und den Kampf einzustellen. Alles zurückziehen. Sich für andere, zukünftige Angriffe schonen. An diesem Vormittag gibt es schon keine einfache Lösung mehr, obwohl der Weg – der einzige Weg – der gleiche ist, weniger kompliziert als es scheint. Die Niederlage anerkennen. Das war’s, Ende der Durchsage. Wir haben verloren. Der Kampf ist aus. Sämtliche Papiere verbrennen, Pläne ad acta legen, Spuren verwischen, alle Untergrundzellen meiden, keine Anrufe entgegennehmen, die Kontakte einstellen. Aber es sollten Jahrzehnte vergehen, bis die wenigen, die noch lebten, in der Lage waren einzuräumen, dass der einzige Ausweg darin bestanden hätte, die Niederlage zu akzeptieren.
    Jetzt, in diesem Augenblick, eingesperrt und einsam in der Zweizimmerwohnung, sieht das Ehepaar diesen Weg nicht. Sie sind nicht dieser Ansicht. Sie befassen sich noch mit der Beurteilung der verschiedenen Gefahrengrade. Der aufgegriffene Companheiro kennt ihre Decknamen, er kann Informationsfragmente liefern, die zu Namen, Szenen, Orten, Daten führen. Sie versuchen, sich zu erinnern, ob sie die Sicherheitsregeln während des Telefonats eingehalten haben. Ja, bei dem Gespräch hatten sie einen Tag nach dem tatsächlichen Treffen sowie eine Stunde nach der tatsächlichen Zeit festgelegt. Immer einen Tag und eine Stunde später angeben, besagt die Sicherheitsnorm.
    Sie dürfen keine Zeit verlieren. Es kann einen zweiten Verräter geben, der die Zelle hat auffliegen lassen. Einen, der ihnen in die Fänge geraten war und einen, der Verrat geübt hat. Entweder sind beide ein und dieselbe Person oder es handelt sich um zwei verschiedene Gefahrenquellen. In jedem Moment kann einer von ihnen sie ausliefern. Wenn sie schnell sind, können sie vielleicht die normale Hälfte ihres Lebens retten, besser, ihr Leben selbst.
    Das Ehepaar hat gültige Papiere, stabile Arbeitsverhältnisse, Familien, Freunde, Väter und Mütter, Geschwister. Die eine Hälfte ihres Doppellebens, diejenige, die sich nicht im Untergrund abspielt, ist intakt. Es reicht aus, den geheimen Teil hinter sich zu lassen, ihn zu löschen – um dieses neuartig gebrauchte und so bezeichnende Wort der heutigen Zeit zu verwenden –, nicht aus Feigheit, sondern aus Weisheit. Um sich zu schützen. In der Niederlage überleben, das genau entspräche einem Sieg. Auch wenn es nicht möglich wäre, alles zu löschen, so bestünde doch immer noch der Ausweg, in einen Schlupfwinkel zu flüchten, sich auf einem Bauernhof, in einer Botschaft, im Erzbistum zu verstecken. Vorausgesetzt, sie standen zu der Niederlage, sie betrachteten den Kampf als beendet.
    Aber die beiden bleiben ihrer Haltung treu. Ihr Handeln beruht nicht auf Einsicht. Nicht die Logik des politischen Kampfes leitet sie, sondern andere Logiken, vielleicht die der Schuld, der Solidarität oder der Verzweiflung. In einen kleinen Aktenkoffer legen sie die zwei falschen Pässe, eine schlechte Imitation, die Pläne für eine Aktion, die niemals stattfinden wird, denn der Krieg ist bereits verloren, einen Revolver und ein paar Patronen, die vielleicht gar nicht zu dieser Waffe passen, sowie den Ehevertrag, unterzeichnet in der Absicht, jeden von ihnen vor den Risiken des anderen zu bewahren.
    In eine größere Tasche aus Segeltuch werfen sie die in mühsamer Kleinarbeit zusammengestellten Beweisstücke, die, die ihnen am wertvollsten erscheinen. Die Namensliste der 232 Folterer, die niemals für ihr Handeln bestraft werden sollten – selbst Jahrzehnte, nachdem sie wiederholt veröffentlicht worden war, selbst Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur –, die Manifeste der politischen Häftlinge, das Dossier der Folterungen, den für Amnesty International bestimmten Bericht. Und auch die Mappe mit den Zeitungsausschnitten über die
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