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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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Ihnen allen erzählte er die Geschichte seiner Tochter. Und ihr VW Käfer ist auch verschwunden – unterstrich er. Die meisten hörten schweigend bis zum Ende zu, dann klopften sie ihm allenfalls auf den gebeugten Rücken und sagten: Es tut mir sehr leid. Einige wenige unterbrachen ihn schon am Anfang, gaben vor, einen Arzttermin zu haben oder Ähnliches – als ob bloßes Zuhören sie bereits in Gefahr brächte.
    Am dreißigsten Tag nach dem Verschwinden seiner Tochter las K. in der Zeitung O Estado de São Paulo eine Nachricht, in der es, wenn auch auf indirekte Weise, um das Verschwinden politischer Oppositioneller ging. Der Erzbischof hatte ein Treffen »mit Familienangehörigen verschwundener politischer Oppositioneller« einberufen.
    Genau so stand es da: »mit Familienangehörigen verschwundener politischer Oppositioneller«.
    K. hatte noch nie ein katholisches Gotteshaus betreten, so fremd kamen ihm das stille Halbdunkel der Kirchen und die Heiligenbilder vor, auf die er hinter Türbögen einen Blick erhaschte. Dem Katholizismus begegnete er mit einer atavistischen Abscheu, zu der sich die Verachtung sämtlicher religiöser Praktiken, einschließlich der seines eigenen Volkes, gesellten. Im Grunde waren es nicht die Menschen und ihr Glaube, die er nicht mochte, es waren die Geistlichen, egal ob Pastor, Rabbiner oder Bischof; für ihn waren es Heuchler. Aber an jenem Nachmittag zählte nichts von alldem. Eine wichtige Persönlichkeit, ein Erzbischof, würde über die seltsamen Fälle verschwundener Menschen sprechen.
    Als er den großen Saal des Erzbischöflichen Palais’ betrat, spürte K., wie sehr das Verschwinden seiner Tochter ihn bereits verändert hatte. Er betrachtete wohlwollend die barocke Statue der Jungfrau Maria im Eingang und die Figuren von anderen, ihm nicht bekannten Heiligen, die in den Nischen standen. Als er ankam, hatte das Gespräch bereits begonnen. Mindestens sechzig der zahlreichen Stühle im Saal waren besetzt. Vier ernst dreinblickende Herren, die wie Rechtsanwälte aussahen, koordinierten das Ganze und saßen dem Publikum im Halbkreis frontal gegenüber; eine Nonne mit einem großen Heft vor sich führte Protokoll.
    Es sprach eine sehr alte Dame, die die neunzig womöglich schon überschritten hatte, zart, klein, die Brille auf der Nasenspitze, das Haar schlohweiß; ihr Mann war am Grenzübergang Uruguaiana aus dem Exil zurückgekehrt, hatte den vorher verabredeten Treffpunkt auf der brasilianischen Seite der Grenze erreicht und war einfach verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen, als habe er sich in Rauch aufgelöst oder als hätten Engel ihn in den Himmel entführt. Einer der Söhne versuchte, seine Schritte zurückzuverfolgen, suchte ihn in sämtlichen Krankenhäusern sowie auf den Polizeiwachen und Busbahnhöfen von Uruguaiana, doch nichts, nicht das geringste Zeichen. Der Sohn, der an ihrer Seite saß, bestätigte die Ausführungen.
    Danach ergriff eine andere, so um die fünfzig Jahre alte Dame das Wort und stellte sich als die Ehefrau eines ehemaligen Parlamentariers vor. Zwei Polizeibeamte seien bei ihr zu Hause erschienen und hätten ihren Mann gebeten, mit ihnen aufs Revier zu kommen, um ein paar Fragen zu klären. Sorglos begleitete er sie, denn obwohl die Militärs ihn seines Mandats enthoben hatten, führte er ein normales Leben und arbeitete in seiner Anwaltskanzlei. Seitdem, also seit acht Monaten, war er nicht wieder gesehen worden. Auf dem Polizeirevier sagte man, er sei lediglich eine Viertelstunde dort gewesen und dann entlassen worden. Aber wie konnte das sein? Wie konnte er denn so sang- und klanglos verschwinden? Diese Dame, elegant gekleidet, war in Begleitung von vier Söhnen erschienen.
    Weitere Berichte über ähnliche Fälle folgten. Alle wollten reden. Und sie wollten zuhören. Sie wollten verstehen. Vielleicht ergab sich ja aus der Gesamtheit der Fälle eine Erklärung, eine Logik, vor allem aber eine Lösung, eine Möglichkeit, dem Alptraum ein Ende zu bereiten. Eine junge Frau von knapp zwanzig Jahren bat darum, im Namen einer Gruppe, die sich um sie geschart hatte, sprechen zu dürfen: »die Familienangehörigen der verschwundenen Guerrillakämpfer des Araguaia«, sagte sie. K. hörte zum ersten Mal, dass jemand die Araguaia-Region erwähnte; er erfuhr, dass viele junge Männer und sogar einige Frauen mitten in den Wäldern des Amazonas von den Streitkräften festgenommen und an Ort und Stelle exekutiert worden waren.
    Was diese Gruppe bei dem
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