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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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Professoren mit strenger Miene, die ihr Studium zum Teil noch in Deutschland absolviert hatten.
    Sie ist heute nicht gekommen, sagten ihre Freundinnen. Sie schienen unschlüssig, warfen sich verstohlene Blicke zu. Dann, als hätten sie Angst vor der Hellhörigkeit der Wände, führten sie K. in den Garten, um mit ihm zu reden. Dort eröffneten sie ihm, dass sie seit elf Tagen nicht mehr erschienen sei. Doch, ganz sicher, seit elf Tagen, wenn man das Wochenende mitzählt. Sie, die nicht ein einziges Mal ihren Unterricht versäumt hat. Sie sprachen leise, ohne die Sätze zu beenden, als verberge jedes einzelne Wort tausend andere, die auszusprechen verboten war.
    Unzufrieden, aufgewühlt, wollte K. noch weitere Meinungen einholen – wer weiß, vielleicht hatten ja ihre Vorgesetzten irgendwelche Informationen? Wenn sie einen Unfall erlitten hätte und im Krankenhaus läge, hätte man doch sicher die Universität verständigt. Die Freundinnen zeigten sich besorgt. Bitte, tun Sie es nicht. Erst einmal nicht. Um ihn davon abzubringen, versuchten sie zu beschwichtigen, vielleicht war sie ja verreist, hatte sich aus reiner Vorsicht für ein paar Tage zurückgezogen? Unbekannte haben nach ihr gefragt, wissen Sie. Auf dem Campus sind suspekte Gestalten aufgetaucht. Sie notieren sich die Autokennzeichen. Sie sind im Rektorat. Was heißt sie? Die Mädchen blieben die Antwort schuldig.
    Dazu überredet, die Dienststellen der Universität zu meiden, verließ K. verzweifelt den Campus und fuhr zur Rua Padre Chico, wo er eine Hausnummer suchte, die seine Tochter ihm vor Zeiten gegeben hatte mit der Anweisung, sie unter dieser Adresse nur im äußersten Notfall aufzusuchen und nur, wenn sie nicht ans Telefon ginge. Wie absurd, dass er nicht nachgefragt hatte, was »nur im äußersten Notfall« und »nur wenn sie nicht ans Telefon ginge« zu bedeuten habe. Wo hatte er nur seinen Kopf gehabt, großer Gott?
    Es handelte sich um ein zweistöckiges, der Straße zugewandtes Reihenhäuschen, eingezwängt zwischen zehn anderen der gleichen Bauart. Eingestaubtes Werbematerial und Zeitungen vor der Haustür zeugten von einer längeren Abwesenheit der Bewohner. Niemand meldete sich auf sein drängendes Klingeln.
    Nun war das Unglück also geschehen. Was tun? Seine beiden Söhne in der Ferne, im Ausland. Seine zweite Frau völlig unfähig. Die Freundinnen an der Universität in Panik. Der alte Herr fühlte sich niedergeschlagen. Sein Körper schien ihm schwach, leer, als würde er zusammenbrechen. Seine Gedanken in hellem Aufruhr. Auf einmal ergab nichts mehr Sinn. Eine einzige Tatsache drängte sich in den Vordergrund, machte alles, was nicht damit zusammenhing, nichtig, ließ alles andere obsolet erscheinen: die konkrete Tatsache, dass seine geliebte Tochter seit elf oder mehr Tagen verschwunden war. Er fühlte sich sehr allein.
    Er stellte Hypothesen auf. Vielleicht ein Unfall oder eine schwere Krankheit, über die sie nicht hatte sprechen wollen. Die schlimmste von allen wäre die Verhaftung durch die Geheimdienste. Der Staat hat weder Gesicht noch Gefühle, er ist undurchsichtig und pervers. Sein einziger Sehschlitz ist die Korruption. Doch manchmal wird selbst dieser aus übergeordneten Gründen geschlossen. Dann verdoppelt der Staat seine Bösartigkeit – aufgrund seiner Grausamkeit und seiner Unerreichbarkeit. Das kannte er sehr wohl.
    K. erinnerte sich an Szenen aus der jüngsten Vergangenheit, an die Nervosität seiner Tochter, ihre Vorwände, diese Eigenart, schnell mal vorbeizuschauen und schon wieder auf dem Sprung zu sein, diese Adresse für den äußersten Notfall und das Verbot, sie an jemanden weiterzugeben. Verwirrt stellte er fest, welch enormer Selbsttäuschung er erlegen war, hinters Licht geführt von der eigenen Tochter, die vielleicht in die gefährlichsten Abenteuer verwickelt war, von denen er in seiner Zerstreutheit nichts ahnte, abgelenkt durch seine Leidenschaft für die jiddische Sprache, leichtfertig verzaubert von den literarischen Treffen.
    Ach, und die Fehlentscheidung, mit dieser deutschen Jüdin die Ehe einzugehen, nur weil sie Kartoffeln kochen konnte. Seine verdammten Freunde, die ihm eingeredet hatten, zum zweiten Mal zu heiraten. Jawohl, verdammt sollten sie sein, alle miteinander. Er, der niemals fluchte, der die Menschen akzeptierte und so nahm, wie sie waren, hatte sich nicht mehr in der Gewalt und ließ eine Schimpfkanonade los. Er ahnte das Schlimmste.
    Sein Freund, der Schriftsteller und Anwalt,
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