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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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Treffen offenbarte, war unbeschreiblich. Das Heer gab vor, es sei nichts dergleichen geschehen, obwohl einer – ein einziger – der Gefangenen entkommen war und alles bezeugt hatte. Die Familien wollten ihre Toten begraben – sie wussten, dass sie nicht mehr am Leben waren, es seien mehr als fünfzig, berichteten sie. Sie wussten sogar, wo in etwa die Region lag, in der sie hingerichtet worden waren, doch die Militärs bestanden darauf, es seien keine Leichen zu übergeben.
    Ein junger Mann traf sich mit seiner Frau im Conjunto Nacional zu einem gemeinsamen Mittagessen. Dies war das letzte Mal, dass die beiden gesehen wurden. Während sie sprach, zeigte die Mutter des jungen Mannes ihren Stuhlnachbarn die Fotos ihres Sohnes, ihrer Schwiegertochter und ihres kleinen Enkels. Ein Herr stand auf und sagte, er sei eigens aus Goiânia zu diesem Treffen angereist. Seine beiden Söhne, der eine einundzwanzig und der andere erst sechzehn Jahre alt, hatte man verschwinden lassen. Dieser Herr stotterte, schien an einer katatonischen Störung zu leiden. Er war der erste, der die Wendung »hatte man verschwinden lassen« gebrauchte. Auch er hatte Fotos seiner Söhne dabei. Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, fasste K. Mut und erzählte seine Geschichte.
    Es war bereits dunkle Nacht und die Berichte setzten sich fort. Die Szenarien, die Einzelheiten und Umstände waren unterschiedlich, doch die insgesamt zweiundzwanzig während des Treffens geschilderten Fälle verband ein und dasselbe erschreckende Merkmal: die Menschen verschwanden, ohne Spuren zu hinterlassen. Es war, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätten. Dasselbe galt auch für die jungen Leute am Araguaia, obwohl man in ihrem Fall bereits wusste, dass sie tot waren. Die Nonne machte Notizen zu jedem einzelnen Fall. Sie sammelte auch die Fotos ein, die die Angehörigen mitgebracht hatten.
    Entsetzt hörte K. zu. Sogar die Nazis, die ihre Opfer zu Asche verbrannt hatten, führten Buch über die Toten. Jeder Einzelne hatte eine eintätowierte Nummer auf dem Arm. Jeder Todesfall wurde registriert. Es stimmte, dass in den ersten Tagen des Überfalls auf Polen und danach Menschen abgeschlachtet wurden. Sie stellten sämtliche Juden eines Dorfes aufgereiht an den Rand eines Massengrabs, erschossen sie, schütteten Kalk darüber, danach Erde – das war’s. Aber die goyim eines jeden Ortes wussten, dass man ihre jüdischen Mitbürger in diesem Loch verscharrt hatte, sie wussten, wie viele es waren und um wen es sich im Einzelnen handelte. Es gab nicht diese tödliche Ungewissheit. Es waren Menschen, die einer Massenexekution zum Opfer gefallen und nicht Menschen, die vom Strudel des Systems erfasst worden waren.

    Die Zelle fliegt auf
    Draußen geht das Leben unbeirrt weiter: Frauen erledigen Einkäufe, Fabrikarbeiter gehen zur Arbeit, Kinder spielen, Bettler bitten um Almosen, Verliebte halten Händchen. Dort drinnen, in der kleinen Zweizimmerwohnung, gerät das Paar in Panik. Den beiden zittern die Hände, sie wissen nicht mehr, wohin damit. Das Gespräch ist von Schrecken geprägt, die Augen vermeiden den Blickkontakt. Sie schwitzen, der Geruch von Unglück liegt in der Luft. Das Auffliegen der Untergrundzelle an jenem Morgen lässt sich nur durch Verrat erklären. Es gibt einen Informanten unter ihnen, einen Verräter oder eingeschleusten Agenten, jemand, der von den wenigen, die übrig geblieben sind, ihnen beiden sehr nahe steht.
    Es sind nicht mehr als zwei Stunden vergangen. Die Instruktionen sind klar und kategorisch: Fliegt eine Zelle auf, muss die schlimmste aller Möglichkeiten als wahrscheinlich angenommen werden, der Companheiro wird der Folter nicht widerstehen und irgendwelche Informationen preisgeben. Es gibt weder Zeit noch Ruhe für eine präzise Auflistung dessen, was der andere gewusst oder nicht gewusst hat. In diesem Fall, so lauten auch hier die Instruktionen, vom schlimmsten aller Fälle ausgehen – der andere hat über alles Bescheid gewusst.
    Wie gut, dass er doppelt vorsichtig gewesen war. Oder hatte er schon einen Verdacht verspürt? Er hatte sich eine Stunde früher am Ende des Platzes an einer Stelle postiert, von der aus er beobachten konnte, ohne beobachtet zu werden. Er hatte mit angesehen, wie die Agenten, einer nach dem anderen, aufgetaucht waren und sich an den vier Ecken, im Zentrum und an den Seiten aufstellten. Es waren mindestens zehn.
    Dann sah er, wie die Kontaktperson sich mit gesenktem Kopf, unsicherem Schritt und nervösen
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