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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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Internet, in dem niemals etwas gelöscht wird? Das Wahrscheinlichste ist, dass ich selbst Name und Anschrift zusammengebracht habe; ob es geschah, als ich die Vermisstenanzeige aufgab? Als ich den Anwalt beauftragte, sich um ihren Nachlass zu kümmern? Oder als ich die Universität aufforderte, diese erbärmliche Entlassung wegen versäumter Pflichterfüllung rückgängig zu machen? Ich werde nie herausfinden, wann es passiert ist. Ich weiß nur, dass die Briefe an die abwesende Adressatin weiterhin eintreffen werden.
    Der Briefträger wird nie erfahren, dass die Empfängerin nicht existiert; dass sie von der Militärdiktatur entführt, gefoltert und ermordet wurde. Ebensowenig wie es im Vorfeld derjenige, der die Briefe sortiert, und all seine Kollegen erfahren werden. Als wolle er Authentizität bezeugen, wird der Name auf dem frankierten und abgestempelten Umschlag das graphische Zeichen nicht eines Versehens oder Computerfehlers sein, sondern das einer landesweiten Alzheimererkrankung. Ja, das Fortbestehen ihres Namens im Verzeichnis der Lebenden wird paradoxerweise aus dem kollektiven Vergessen des Verzeichnisses der Toten resultieren.
    São Paulo, den 31. Dezember 2010

    Vom Strudel des Systems erfasst
    Die Tragödie hatte bereits unaufhaltsam ihren Lauf genommen, als K. an jenem Sonntagmorgen zum ersten Mal diese Angst verspürte, die ihn bald nicht mehr loslassen sollte. Seit zehn Tagen hatte seine Tochter nicht mehr angerufen. Später sollte er die Schuld der Vernachlässigung von Familienritualen zuschreiben, die einzuhalten erst recht notwendig war in schweren Zeiten: einmal am Tag telefonieren, das sonntägliche Mittagessen. Die Tochter kam mit seiner zweiten Frau nicht zurecht.
    Und wie konnte einer wie er, gezeichnet von den politischen Umständen, die Augen verschließen vor dem Aufruhr der neuen Zeit? Wer weiß, vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er, anstatt sich mit seinen jiddischen Schriftstellern zu befassen, mit dieser toten Sprache, die nur noch von wenigen Greisen gesprochen wird, dem, was damals im Land geschah, mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte? Wer weiß? Wozu war das Jiddische gut? Zu gar nichts. Eine Kadaversprache, das war es, was sie in ihrem allwöchentlichen Literaturkreis beklagten, anstatt sich um die Lebenden zu kümmern.
    Den Sonntag verband er mit seiner Tochter seit der Zeit, als er ihr immer kleine Geschenke vom Straßenmarkt mitgebracht hatte. Plötzlich fielen ihm einige Gerüchte vom Tag zuvor im Stadtviertel Bom Retiro ein; zwei Medizinstudenten seien verschwunden, einer stamme aus einer reichen Familie, erzählte man. Das habe mit Politik zu tun, hieß es, mit der Diktatur, wäre kein Fall von Antisemitismus. Es seien auch andere, Nichtjuden, verschwunden, deshalb habe die Gemeinde beschlossen, sich nicht einzumischen. So das Gerücht, vielleicht stimmte es ja gar nicht; denn die Namen der jungen Männer wurden nicht erwähnt.
    Es war das Gemunkel, das ihn unruhig stimmte, nicht der Sonntag. Den ganzen Tag über wählte er eine Telefonnummer, die seine Tochter ihm gegeben hatte, für den Notfall, einsam verhallte das Klingeln. Ohne eine Antwort, nicht einmal zu später Nachtstunde, wenn sie zurück sein müsste, selbst wenn sie ins Kino gegangen wäre, was sie so gern tat, beschloss er, sie am nächsten Tag in der Universität zu besuchen.
    In dieser Nacht träumte er, er wäre noch klein und die Kosaken stürmten die Schuhmacherei seines Vaters, damit er ihnen Stiefelgamaschen nähte. Erschrocken fuhr er hoch, es war noch früh. Die Kosaken, erinnerte er sich, waren ausgerechnet an Tisha B’Av gekommen, diesem Trauertag für das jüdische Volk, der die Zerstörung des ersten und des zweiten Tempels und auch die Vertreibung aus Spanien beklagt.
    Ohne zu wissen, was ihm bevorstand, wenngleich von einer Ahnung erfüllt, und ohne seine Frau zu wecken, fuhr er den Austin aus der Garage und machte sich auf den Weg in Richtung Universitätscampus, ein fern gelegenes, flaches Gelände gegenüber dem dichten Gestrüpp der Hochhäuser. Er fuhr langsam, ließ sich Zeit, um das Stadtzentrum zu durchqueren, so, als wolle er niemals ankommen; seine Gefühle schwankten zwischen der Überzeugung, sie ganz normal an ihrem Arbeitsplatz anzutreffen und dem Gegenteil davon. Schließlich erreichte er den Gebäudekomplex der Chemischen Fakultät, wo er ein einziges Mal gewesen war, vor Jahren, als seine Tochter ihre Dissertation verteidigt hatte, ihr gegenüber eine Gruppe von
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