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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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sonntags sind es über dreitausend. Die Bäckereien sind für die Polizei sehr nützlich, erklärte Amadeu. Er versichert, den Ort ausfindig zu machen, an dem sich die Tochter befindet, falls sie verhaftet wurde. Er bittet um Angaben zu ihrer Person und kehrt in seine Bäckerei zurück – ohne das Hemd mitzunehmen.
    Wenn Caio und Amadeu Informanten sind, dann sind die Spione sicher überall, überlegt K. fassungslos. Es stimmte, dass, als er 1935 nach Brasilien kam, auf der Flucht vor der polnischen Polizei, seine Landsleute ihn auf die Spione von Präsident Getúlio Vargas aufmerksam gemacht hatten, »zey zaynen umetum«, sie sind überall, warnten sie ihn auf Jiddisch. Aber das war zur Zeit des Faschismus. Und nun waren die Spione schon wieder überall.
    Oder sind sie immer überall gewesen? Langsam beginnt er zu glauben, dass sie immer überall gewesen sind; die Regierung konnte die Informationen verwenden oder auch nicht, aber die Informanten hatten nie aufgehört zu informieren. Wenn es sich um eine bösartige Regierung handelte, wie die von Getúlio Vargas, wurden sie verwendet; wenn sie gutartig war, wurden sie seltener verwendet. Denn hatte Getúlio nicht das Versteck von Olga Benario und vieler anderer ausfindig gemacht mit Hilfe von Informanten? Was er mit Olga gemacht hatte, war abstoßend.
    Seine Überlegungen führten ihn schließlich zu dem Besitzer der Apotheke von Bom Retiro, einem jungen Mann, der sich mit seinen zwanzig Jahren als solch gewiefter Denunziant erwies, dass er bereits zu einer wichtigen Figur für die jüdische Bevölkerung von São Paulo geworden war. K. hatte den verstorbenen Vater gekannt, einen Chemiker, der in Wilna studiert hatte und die jiddische Literatur liebte. Er war voller Scham über seinen Sohn, den Spitzel, gestorben, obwohl dieser in der Gemeinde toleriert wurde, denn er half vielen Juden, die ohne Papiere vor der Naziherrschaft geflohen waren, und verlangte dafür wenig Geld; sobald sich ein Landsmann in einer brenzligen Situation befand, war er zur Stelle und handelte einen ehrenhaften Ausweg mit der Polizei aus. K. fragt sich, wieso er ihn nicht aufgesucht hat, als er die unerklärliche Abwesenheit seiner Tochter bemerkte.
    Da rief Caio, der Dekorateur, an. Es stimmt, Ihre Tochter ist verhaftet worden. Das ist alles, was ich in Erfahrung bringen konnte. Übermorgen werde ich mehr wissen. Rufen Sie mich nicht an, ich melde mich bei Ihnen. Am selben Nachmittag erscheint ein Mitarbeiter von Amadeu und sagt Bescheid, die Bestellung sei fertig. K. begreift. Er begibt sich zur Bäckerei, und als gerade niemand an der Kasse steht, geht er hin und fragt, wieviel die Bestellung kostet. Amadeu flüstert: Sie wurde festgenommen, das ist alles, was ich weiß. In ein paar Tagen weiß ich mehr. K. frohlockt: Sie lebt; sie würden nicht sagen, dass sie verhaftet ist, wenn sie tot wäre. Die zwei haben dasselbe gesagt. Seine Erleichterung ist so groß, dass sie sich kaum in Worte fassen lässt. Jetzt heißt es abwarten, bis sie herausfinden, wo sie festgehalten wird.
    Einige Tage später lässt ihn der Portugiese eines Vormittags rufen und raunt ihm zu, es habe eine Verwechslung gegeben, sie sei niemals verhaftet worden, niemals, unterstreicht er emphatisch. Der Portugiese wirkt erschrocken. Am gleichen Tag meldet sich Caio und sagt Wort für Wort dasselbe, so als wiederhole er eine Standardbotschaft. Es war ein Irrtum, sie ist nie verhaftet worden; nie, wiederholt er entschieden. Und legt auf, ohne die Antwort abzuwarten.
    Wie diese neue Wendung interpretieren? Eine Farce, das war klar. Sie lügen. Eine derbe Farce. Sie lügen jetzt, nicht vorher, als sie gesagt haben, dass sie verhaftet wurde. K. fühlt sich schlecht; wieder dieses Gefühl der inneren Leere, er sinkt auf einen Stuhl. Es ist schon über fünf Wochen her. Er weiß, dass jeder einzelne Tag ohne eine Nachricht die schlimme Vorahnung verstärkt. Der Apotheker fällt ihm wieder ein. Er weiß nun, weshalb er ihn noch nicht aufgesucht hat: die Enttäuschung des Vaters über den Sohn als Spitzel hatte ihn angesteckt.
    Früh am nächsten Morgen geht K. zur Apotheke. Der Informant erkennt ihn sofort, ihm scheint, K. sei plötzlich älter geworden. Er weiß bereits über die Entführung der Tochter Bescheid; ganz Bom Retiro weiß Bescheid. Er führt K. ins Hinterzimmer, wo die Spritzen verabreicht werden, und hört sich dort den bitteren Bericht des alten Juden an, dem ein neues Geheimnis hinzugefügt wurde: Wieso sagen sie
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