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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Autoren: Fred Vargas
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    »Ein zweites Mordopfer in Paris aufgefunden. Siehe S. 6«
    Louis Kehlweiler warf die Zeitung auf den Tisch. Er hatte die Nase voll davon und nicht die Absicht, sich auf Seite sechs zu stürzen. Später, wenn die ganze Geschichte sich beruhigt hätte, würde er den Artikel vielleicht ausschneiden und abheften.
    Er ging in die Küche und machte ein Bier auf. Es war das vorletzte aus dem Vorrat. Mit dem Kuli schrieb er sich ein großes »B« auf den Handrücken. Diese drückende Julihitze zwang einen, den Verbrauch gewaltig zu steigern. Heute abend würde er die neuesten Nachrichten über die Regierungsumbildung, den Streik der Bahnarbeiter und die auf die Straßen gekippten Melonen lesen. Und Seite sechs würde er friedlich überblättern.
    Mit offenem Hemd und der Flasche in der Hand machte sich Louis wieder an die Arbeit. Er übersetzte eine umfangreiche Bismarck-Biographie. Das wurde gut bezahlt, und er rechnete damit, dem Kanzler des Deutschen Reichs noch einige Monate auf der Tasche zu liegen. Er übersetzte eine Seite, dann unterbrach er die Arbeit und nahm die Hände von der Tastatur. Seine Gedanken hatten Bismarck verlassen, um sich einem Behälter mit Deckel zuzuwenden, in dem er seine Schuhe aufbewahren könnte und der sich im Wandschrank sehr ordentlich machen würde.
    Ziemlich unzufrieden schob er den Stuhl zurück, ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab und fuhr sich durchs Haar. Der Regen fiel auf das Blechdach, mit der Übersetzung ging es gut voran, und es gab keinen Grund, sich so anzustellen. Nachdenklich fuhr er seiner Kröte, die auf dem Schreibtisch in einer Stiftablage schlief, mit einem Finger über den Rücken. Er beugte sich vor, blickte wieder auf den Bildschirm und las halblaut den Satz, den er gerade übersetzte: »Es ist wenig wahrscheinlich, daß Bismarck bereits zu Beginn des Monats Mai vorgehabt hatte, ...« Dann fiel sein Blick wieder auf die zusammengelegte Zeitung auf dem Schreibtisch.
    Ein zweites Mordopfer in Paris aufgefunden. Siehe S. 6. O. k., weiter. Das ging ihn nichts an. Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu, wo der deutsche Reichskanzler wartete. Er mußte sich nicht um Seite sechs kümmern. Es war ganz einfach nicht mehr sein Job. Sein Job bestand jetzt darin, Sachen aus dem Deutschen ins Französische zu übersetzen und so gut wie möglich auszudrücken, warum Bismarck zu Anfang dieses Monats Mai etwas ganz Bestimmtes nicht hatte vorhaben können. Das war ein ruhiger Job, er ernährte ihn, und außerdem lernte er noch was dabei.
    Louis tippte zwanzig Zeilen. Er war bei »denn in der Tat deutete nichts darauf hin, daß er darüber verärgert war«, als er erneut die Arbeit unterbrach. Seine Gedanken waren wieder bei dieser Sache mit dem Behälter angelangt, und er versuchte hartnäckig, das Problem mit dem Berg Schuhe zu klären.
    Louis erhob sich, holte das letzte Bier aus dem Kühlschrank, blieb dort stehen und trank in kleinen Schlucken aus der Flasche. Er durchschaute die Sache. Die Tatsache, daß seine Gedanken sich hartnäckig in häusliche Fragen verrannten, war ein bedenkliches Zeichen. Louis kannte dieses Zeichen sehr gut, es deutete auf Flucht. Flucht vor Projekten, ein Rückzug von Ideen, diskretes geistiges Elend. Weniger die Tatsache, daß er an den Berg von Schuhen dachte, bereitete ihm Sorgen. Jeder Mensch kann nebenbei an so etwas denken, ohne daß man daraus gleich eine große Geschichte macht. Nein, es war die Tatsache, daß ihm diese Beschäftigung Spaß machte.
    Louis trank zwei Schlucke. Dann waren da noch die Hemden, er hatte sogar schon daran gedacht, die Hemden aufzuräumen, das war noch keine Woche her.
    Kein Zweifel, Flucht. Nur Typen, die überhaupt nicht mehr wissen, was sie mit sich anstellen sollen, beschäftigten sich mangels Möglichkeit, die Welt zu verbessern, damit, ihren Kleiderschrank neu zu ordnen. Er stellte die Flasche auf die Theke und ging ins Zimmer zurück, um sich die Zeitung genauer anzusehen. Denn im Grunde war er wegen dieser Morde an den Rand des häuslichen Elends gelangt und nahe dran, seinen kompletten Haushalt umzukrempeln. Nicht wegen Bismarck. Nein. Er hatte keine großen Probleme mit diesem Typen, der ihm seinen Lebensunterhalt sicherte. Darum ging es nicht.
    Es ging um die verdammten Morde. Zwei tote Frauen in zwei Wochen, von denen das ganze Land redete und über die er so gründlich nachdachte, als hätte er ein Recht, über sie und ihren Mörder nachdenken zu dürfen, wo ihn das doch überhaupt
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