Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
anstrengen mußte, daß der Typ verzweifelt etwas von ihr erwartete. Aber dieses magere, abstoßende und ängstliche Gesicht hatte sie noch nie gesehen. Und doch, diese Augen, die gleich zu weinen drohten, und dieses ängstliche Warten sagten ihr irgend etwas. Die leeren Augen, die kleinen Ohren. Ein ehemaliger Kunde? Unmöglich, zu jung.
    Der Mann wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab, mit der raschen Geste eines Kindes, das kein Taschentuch hat.
    »Clement ...?« murmelte Marthe. »Der kleine Clement ...?«
    Der kleine Clement, mein Gott! Marthe machte rasch die Holzläden ihrer Auslage zu, schloß ab, nahm ihren Klappstuhl, ihre Zeitung, zwei Plastiktüten und zog den jungen Mann rasch am Arm.
    »Komm«, sagte sie.
    Wie hatte sie nur seinen Familiennamen vergessen können? Gut, sie hatte ihn auch nie benutzt. Sie hatte ihn Clement genannt, das war alles. Sie führte ihn fünfhundert Meter weiter auf den Parkplatz des Institut de France, wo sie ihren Kram zwischen zwei Autos abstellte.
    »Hier ist es ruhiger«, erklärte sie.
    Erleichtert ließ Clement alles mit sich geschehen.
    »Na, siehst du«, fuhr Marthe fort, »ich habe dir gesagt, daß du mich später um einen Kopf überragen würdest, und du wolltest es nicht glauben. Wer hatte recht? Und wie lange ist das her ... Wie alt warst du da? Zehn. Und dann, eines Tages: verschwunden, der kleine Mann. Du hättest dich melden sollen. Ich will dir keine Vorwürfe machen, aber das hättest du tun sollen.«
    Clement drückte die alte Marthe an sich, und Marthe klopfte ihm auf den Rücken. Natürlich roch er nach Schweiß, aber er war ihr kleiner Clement, und außerdem war Marthe nicht zimperlich. Sie war glücklich, ihren kleinen, verlorenen Jungen wiederzusehen, dem sie fünf Jahre lang versucht hatte ordentlich Lesen und Reden beizubringen. Als sie ihn kennengelernt hatte, wie er auf der Straße herumzog, wo ihn sein Drecksack von Vater seinem Schicksal überließ, hatte er kein Wort gesprochen, er hatte immer nur ein »Mir eh scheißegal, ich komm eh in die Hölle« gebrummt.
    Marthe sah ihn besorgt an. Er schien völlig verstört.
    »Mit dir stimmt was nicht«, erklärte sie.
    Clement hatte sich mit hängenden Armen auf ein Auto gesetzt. Er starrte auf die Zeitung, die Marthe auf ihre Plastiktüten gelegt hatte.
    »Hast du die Zeitung gelesen?« stieß er hervor.
    »Ich bin beim Kreuzworträtsel.«
    »Hast du das mit der ermordeten Frau gesehen?«
    »Und ob ich es gesehen habe. Alle haben es gesehen. Was für ein Barbar.«
    »Sie suchen mich, Marthe. Du mußt mir helfen.«
    »Wer sucht dich, mein kleiner Mann?«
    Clement machte eine weit ausladende Kreisbewegung.
    »Die ermordete Frau«, wiederholte er. »Sie suchen mich. Sie haben mich in die Zeitung gebracht.«
    Marthe klappte schnell ihren Segeltuchstuhl auseinander und setzte sich. Das Blut pochte ihr in den Schläfen. Jetzt kamen ihr nicht mehr nur die Bilder des kleinen, lernbegierigen Jungen in den Sinn, sondern sie begann sich auch an all die Dummheiten zu erinnern, die Clement zwischen neun und zwölf Jahren angestellt hatte. Die Diebstähle, die Prügeleien, wenn ihn jemand als Trottel bezeichnet hatte, die verschrammten Autos, die Kreidestücke in den Autotanks, die eingeschlagenen Scheiben, die verbrannten Mülltonnen. Er war mager und knurrte immer: »Ich komm eh in die Hölle, sagt Papa, mir ist das scheißegal.« Wie häufig hatte Marthe ihn bei den Bullen losgeeist? Zum Glück kannte sie die Kommissariate und alle, die darin arbeiteten, durch ihren Beruf in- und auswendig. Als er etwa dreizehn war, hatte Clement sich ein bißchen beruhigt.
    »Um Gotteshimmelswillen, das ist doch nicht möglich«, sagte sie nach ein paar Minuten leise. »Um Gotteshimmelswillen, das ist doch nicht möglich, daß sie dich suchen.«
    »Doch, mich. Sie werden mich kriegen, Marthe.«
    Marthe hatte einen Kloß im Hals. Sie hörte ein Lärmen auf der Treppe und die Stimme des Kleinen, der schrie: »Sie kriegen mich, Marthe, sie kriegen mich!«, während er an die Tür trommelte. Marthe öffnete, und der Kleine warf sich ihr schluchzend in die Arme. Sie legte ihn zusammengerollt aufs Bett, das rote Federbett über ihn und streichelte ihm das Haar, bis er einschlief. Der kleine Clement war wirklich nicht sehr helle. Sie wußte es, aber sie hätte sich eher in Stücke reißen lassen, als das zuzugeben. Es gab ziemlich viele, die ihn verachteten. Es war doch nicht seine Schuld, der Kleine würde schon ruhiger werden, und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher