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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Autoren: Fred Vargas
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beides zugleich zu tun. Marthe hatte daher beschlossen, das Ende des Abendessens abzuwarten.
    »Denk nicht dran und iß«, wiederholte sie. »Ein leerer Sack kann nicht stehen.«
    Clement nickte und gehorchte.
    »Und während wir essen, erzähle ich dir Geschichten aus meinem Leben, wie früher, als du klein warst. Nicht wahr, Clement? Die von dem Kunden, der immer zwei Hosen übereinander anhatte, ich bin sicher, daß du dich überhaupt nicht mehr an sie erinnerst.«
    Es fiel Marthe nicht schwer, Clement zu zerstreuen. Sie besaß die Fähigkeit, stundenlang kleine Geschichten aneinanderzureihen, und häufig passierte es ihr sogar, daß sie mit sich selbst redete. Sie erzählte also die Geschichte von dem Mann mit den zwei Hosen, die von dem Brand an der Place d'Aligre, die von dem Abgeordneten, der zwei Familien hatte, die nur sie allein kannte, die Geschichte von der kleinen fuchsroten Katze, die aus dem sechsten Stock auf ihre vier Pfoten gefallen war.
    »Meine Geschichten sind heute abend nicht besonders großartig«, schloß Marthe und verzog das Gesicht. »Ich bin nicht ganz bei der Sache. Ich bring jetzt den Kaffee, und dann unterhalten wir uns. Nimm dir nur Zeit.«
    Clement fragte sich ängstlich, wo er beginnen sollte. Er hatte keine Ahnung, wo ›klein a‹ war. Sicher heute morgen im Café.
    »Heute morgen habe ich einen Kaffee im Café getrunken.«
    Clement unterbrach sich, die Finger auf den Lippen. Genau das war es, weshalb er ein Trottel war. Wie stellten all die anderen es an, nicht ›einen Kaffee im Café‹ zu sagen?
    »Erzähl weiter«, sagte Marthe. »Laß dich nicht beeindrucken, das sind Kleinigkeiten, die uns egal sind.«
    »Ich habe einen Kaffee im Café getrunken«, wiederholte Clement. »Da hat einer der Männer die Zeitung vorgelesen. Ich hab den Namen ›Rue de la Tourdes-Dames‹ gehört, da hab ich persönlich zugehört, und dann haben sie den Mörder beschrieben, und das war dann ich, Marthe. Niemand anderer als ich. Da war ich dann erledigt. Ich verstehe nicht, wie sie es erfahren haben. Ich hatte große Angst, folgsam bin ich persönlich in mein Hotel zurückgegangen. Ich hab meine Sachen genommen, und danach habe ich nur an eine einzige Sache gedacht, und das warst du, damit sie mich nicht schnappen.«
    »Was hat das Mädchen dir getan, Clement?«
    »Was für ein Mädchen, Marthe?«
    »Das Mädchen, das jetzt tot ist, Clement. Hast du sie gekannt?«
    »Nein. Ich hab sie nur fünf Tage lang ausspioniert. Aber sie hat mir nichts getan, das schwör ich.«
    »Und warum hast du sie ausspioniert?«
    Clement drückte mit einem Finger auf einen Nasenflügel und runzelte die Stirn. Es war schwierig, alles in die richtige Reihenfolge zu bringen.
    »Um zu erfahren, ob sie einen Liebhaber hat. Das war dafür der Grund. Und die Topfpflanze habe ich auch gekauft, und ich habe sie hingebracht. Sie haben sie bei ihr gefunden, die ganze Erde auf dem Boden, das steht in der Zeitung.«
    Marthe stand auf und holte sich eine Zigarette. Als Kind war Clement zwar nicht sehr helle gewesen, aber er war ihr weder verrückt noch grausam vorgekommen. Der junge Mann, der da jetzt an ihrem Tisch in ihrem Zimmer saß, machte ihr plötzlich angst. Einen kurzen Augenblick lang dachte sie daran, hinauszugehen und die Bullen zu rufen. Ihr kleiner Clement, um Gotteshimmelswillen. Was hatte sie gehofft? Daß er nur zufällig gemordet hätte? Ohne zu wissen, was er tat? Nicht mal das. Sie hatte gehofft, es wäre nicht wahr.
    »Was ist denn in dich gefahren, Clement?« murmelte sie.
    »Wegen der Topfpflanze?«
    »Nein, Clement! Warum hast du sie umgebracht?« brüllte Marthe.
    Ihr Schrei endete in einem Schluchzen. Voller Angst rannte Clement um den Tisch und kniete sich neben sie.
    »Aber Marthe«, stammelte er, »aber Marthe, du weißt doch gut, daß ich ein braves Kind bin! Das hast du doch gesagt! Das hast du immer gesagt! War das nicht persönlich die Wahrheit? Marthe?«
    »Ja, das hab ich geglaubt!« rief Marthe. »Ich hab dir alles beigebracht! Und was hast du gemacht? Glaubst du, das ist anständig?«
    »Aber Marthe, sie hat mir nichts getan ...«
    »Halt den Mund! Ich will nichts mehr davon hören!«
    Clement stützte seinen Kopf in die Hände. Oder hatte er sich getäuscht? Was hatte er vergessen zu sagen? Er hatte sich wie gewöhnlich mit ›klein a‹ getäuscht, wie immer, er hatte nicht da angefangen, wo er hätte anfangen müssen, und hatte Marthe schrecklichen Kummer bereitet.
    »Ich habe den Anfang nicht
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