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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf
Autoren: Peter Wohlleben
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Vorwort
    Ich stehe vor einer riesigen Buche. Ihre glatte Rinde ist auf einer Seite hellgrau, auf der anderen dunkel und feucht vom Regen der letzten Nacht. Das Laub riecht nach Pilzen und Moder. Ich schaue noch einmal in die weit ausgreifenden kahlen Kronenäste. Rund 170 Jahre hat sie auf dem Buckel. Da schreckt mich der Achtungsruf der Waldarbeiter aus meinen Gedanken und unwillkürlich trete ich noch einige Schritte zurück. Die Motorsäge heult auf, weiße Späne spritzen umher. Das Schwert der Maschine frisst sich unerbittlich ins Holz und wenig später geht ein Zittern durch den Baum. Fast unmerklich setzt sich die Krone in Bewegung, um rasch an Fahrt aufzunehmen. Der Stamm ächzt und quietscht, die Äste rauschen und dann schlägt die Buche so hart zu Boden, dass ich es in den Fußsohlen spüre.
    Meine Gefühle fahren Achterbahn. Denn da sind zum einen die gewaltigen Kräfte, die so eine Fällung zum Ausbruch bringt. Der dicke Stamm, das viele Nutzholz, all das wird auf meine Anweisung hin bearbeitet. Zum anderen schwingt ein Bedauern mit, welches mit jedem abgesägten Baum immer größer wird: Ich beseitige die letzten alten Laubwälder des Gemeindewalds, die letzten mächtigen Buchen und Eichen. Zurück bleibt nur Jungwuchs, wenige Jahre alt. Dieser »Wald« reicht mir nicht einmal bis zum Kinn. Ist es das, was ich mir für unsere Umwelt wünsche?
    Diese berufliche Episode ist mittlerweile 20 Jahre her und die alten Wälder meiner Gemeinde stehen nun unter Schutz. Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, was dort draußen vor sich geht, wie ein Wald funktioniert und was menschliches Handeln bewirkt. Wieder und wieder habe ich meine Arbeit hinterfragt, nicht nur als Förster, sondern auch als Mensch, der seinen Platz im 21. Jahrhundert einnimmt. Und obwohl dieser Lernprozess nie zu Ende gehen wird und ich immer noch Fehler mache, habe ich mich mit den Bäumen versöhnt. Jetzt endlich, nach 25 Jahren beruflicher Tätigkeit, passen Arbeit und Naturschutz zusammen. Und in letzter Zeit lässt mich der neue, unverkrampfte Blick auf unser größtes Ökosystem laufend überraschende Dinge entdecken, die so an keiner Hochschule gelehrt werden.
    Wald kommt der Ursprünglichkeit unzerstörter Natur noch am nächsten. Der Lärm und die Hektik des Alltags scheinen in ihm zu verhallen. Wenn der Wind durch die Wipfel rauscht, die Vögel singen und das Grün der Blätter harmonisch in das Blau des Himmels übergeht, können wir tief durchatmen und entspannen. Das Wissen, dass Wälder nebenbei auch unverzichtbar für reines Trinkwasser, gesunde Luft und die Artenvielfalt sind, verstärkt die positiven Gefühle. Doch ist das wirklich intakte Natur, was wir da sehen? Seit ich mich kritisch mit der eigenen Zunft beschäftige, kommen mir viele Forste nur noch wie grüne Kulissen vor, hinter denen es ums knallharte Geschäft geht. Die Tierwelt wird zum Teil an den Rand gedrängt und als lästiges Hindernis gesehen, Bäume nur noch als Holzlieferanten mit begrenzter Verweildauer begriffen.
    Noch gibt es sie, die grünen Inseln mit intakten Lebensgemeinschaften. Selbst wenn es keine Urwälder mehr sind, sondern eher wilde Kulturwälder, so kann man hier das Sozialleben der Bäume beobachten, neue Tierarten im kaum erforschten Boden entdecken oder einfach nur spüren, wie sich echter Wald anfühlt. Doch selbst diese Fläche wird täglich kleiner, um Platz für neue Nadelbaumplantagen zu schaffen. Leider wird das in der Öffentlichkeit kaum bemerkt und auffällige Veränderungen werden dem Waldsterben oder dem Klimawandel in die Schuhe geschoben.
    Es ist vielfach unser aller Wald, mit dem so gewirtschaftet wird, denn ein Großteil der Betriebe befindet sich im Besitz von Staat, Städten und Gemeinden. Und deswegen wünsche ich mir mehr kritische »Aktionäre«, die helfen, dieses empfindliche Ökosystem zu schützen.
    Haben Sie Lust, mich zu begleiten? Dann lade ich Sie ein auf einen Spaziergang durch den Wald, auf eine Entdeckungstour zu den letzten Geheimnissen vor unserer Haustür. Zuvor aber möchte ich Ihnen noch ein wenig über meinen Weg in den Wald erzählen …

Wie ich Förster wurde
    Schon als kleiner Junge wollte ich Naturschützer werden. Die Familienurlaube im Allgäu oder auf den Nordseeinseln riefen in mir eine tiefe Sehnsucht nach weiten, ursprünglichen Landschaften hervor. Ging es wieder nach Hause, brach ich jedes Mal in Tränen aus. Diese Sehnsucht ist mir bis heute geblieben.
    Naturschutz ist kein
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