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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf
Autoren: Peter Wohlleben
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ich kann mir nicht mehr vorstellen, woanders zu wohnen.
    Mein Leben als echter Förster, draußen im Wald und nicht am Schreibtisch, begann unspektakulär. Ich hatte drei Mitarbeiter, Forstwirte, die meine Vorstellungen von Waldwirtschaft mit mir umsetzten. Anfangs gab es Schwierigkeiten, weil sie vom Vorgänger eine großzügigere Auslegung der Arbeitszeiten gewohnt waren. Vielleicht war auch mein Alter der Grund. Denn wer lässt sich schon gern als gestandener Waldarbeiter etwas von einem Jungspund sagen?
    Eine Einarbeitung gab es nicht, aber das empfand ich auch als unnötig. Schließlich hatte ich ja auf der Fachhochschule alles gelernt, was man als Förster wissen musste. Und so ließ ich den Boden mit einem speziellen Bagger fräsen, damit Fichten und Eichen leichter zu pflanzen waren. Die Mäuse auf den Kahlschlägen bekämpfte ich mit Giftködern, und die Holzstapel am Wegesrand wurden mit Insektiziden eingenebelt, um sie vor einem Befall zu schützen. War das ein Spaß, als der erste Harvester eine Durchforstung machte! Die Erntemaschine fällte die Bäume im Minut entakt und im Nu waren ganze Bestände abgefertigt. Die alten Buchen ließ ich nach und nach fällen, denn sie galten als überaltert. Zum damaligen Zeitpunkt wuchsen sie bereits 170 Jahre, was nach forstlichem Verständnis schon zehn Jahre über das übliche Verfallsdatum hinaus war. Ja, es tat weh, die alten Riesen fallen zu sehen. Aber wie aufregend war es, die Stämme Holzaufkäufern aus China anzubieten, die horrende Preise zahlten. Und das war es schließlich, was ich beabsichtigte: Geld in die Kassen zu bringen, auch wenn mir das nicht recht gelingen wollte. Pro Quadrat kilometer Waldfläche »erwirtschaftete« ich jährlich 10 000,– Euro Verlust. Ein schlechtes Gewissen brauchte ich deswegen aber nicht zu haben, denn das entsprach damals dem Durchschnitt der Forstbetriebe in meiner Gegend. Solch eine gute Waldpflege durfte eben etwas kosten, das war allgemeiner Konsens.
    Bei der Bevölkerung hatte ich schnell den Ruf eines scharfen Hunds: Wer immer mit dem Mofa oder dem Auto in einen Waldweg bog, wurde von mir zur Rede gestellt, in etlichen Fällen gab es auch ein Knöllchen. Egal, mein Wald, mein Revier war tipptopp in Ordnung.
    Wenn ich heute an diese Zeit denke, dann schäme ich mich für das, was ich mit dem Wald getan habe. Ich kann mich gut an einzelne Bäume erinnern, bei denen es mir besonders leidtut, dass ich sie fällen ließ. Etwa die dicke, alte Buche, deren Krone ein Sturm abgebrochen hatte. Sie kämpfte ums Überleben und hatte mit den Jahren aus ein paar verbliebenen Seitenästen eine kümmerliche Ersatzkrone aufgebaut. Solche Bäume gelten als ökologisch besonders wertvoll, da sich um die Bruchzone seltene Insekten- und Pilzarten ansiedeln. Den dicken, tonnenschweren Stamm einfach stehen zu lassen, erschien mir als betriebswirtschaftliche Sünde. Also markierte ich ihn zur Fällung und kurze Zeit später setzten die Waldarbeiter die Motorsäge an. Ungewöhnlicherweise sprudelte aus dem Schnitt Wasser hervor, fast so, als würde der Baum Tränen vergießen. Und als der Stamm dann lag, zeigte sich ein weißes, sternförmiges Muster auf der Schnittfläche – Weißfäule. Dafür bezahlen Holzkäufer nicht mehr als den Brennholzwert, und so hätte ich den Baum besser stehen gelassen.
    Oder eine andere Buche, die bereits komplett abgestorben war. Als Sägeholz kam sie nicht mehr in Betracht, aber ein örtlicher Verein fragte nach Brennholz. Und da der Baum praktischerweise nah am Waldweg stand und somit leicht abtransportiert werden konnte, verschenkte ich ihn – und mit ihm Tausende seiner Bewohner.
    Auch beim Gedanken an den Maschineneinsatz regt sich das schlechte Gewissen. Zweimal war ich dabei, als ein Hydraulikschlauch platzte, das Öl meterweit durch den Wald spritzte und im Erdreich versickerte. Und das war nicht der einzige Schadstoffregen. Denn die Waldarbeiter füllten, um Geld zu sparen, besonders schädliches Altöl in die Kettenschmierung der Motorsägen. Wurden dann Bäume gefällt und entastet, flog das klebrige schwarze Zeug literweise durch die Luft.
    Schon in den ersten ein, zwei Jahren, in denen ich das Revier noch traditionell führte, wuchs mein Unbehagen von Tag zu Tag. Denn je mehr ich über das System nachdachte, desto weniger verstand ich es. War es wirklich angewandter Naturschutz, alte Laubwälder abzuholzen? Warum musste man Jungwälder pflegen, indem man überzählige Bäumchen heraussägte?
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