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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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SCHAU DICH NICHT UM!
    19. Oktober 1941
    Morgennebel umhüllte die Häuser im Frankfurter Ostend. Herbstschwer lag er auf den welkenden Blumen in den kleinen Vorgärten und auf den dichten Hecken, die vor fremden Blicken zu schützen hatten. Im Dunst des beginnenden Tages waren noch nicht einmal die stämmigen alten Eichen und die mächtigen Kastanienbäume am Straßenrand auszumachen, die der Straße ihren beruhigenden, dörflich-behäbigen Charakter gaben. Dann, so plötzlich wie unerwartet, tauchte aus dem erstickenden Nebelgrau die Großmarkthalle auf. Einen Moment schien der Anblick des imposanten Gebäudes die verängstigten und zu Tode erschöpften Menschen, die dorthin getrieben wurden wie das Vieh zum Schlachthaus, zu beruhigen. Ein paar erleichterte Seufzer, ein vereinzeltes »Ach«, sogar das Händeklatschen zweier Kinder, die von nichts wussten, waren zu vernehmen, doch die Gnade, die Wirklichkeit nicht mehr einordnen zu können, währte nicht länger als einen Herzschlag.
    »Los, ihr verdammtes Judenpack!«, brüllte die Stimme des Entsetzens.
    Die Großmarkthalle, der Stolz der Frankfurter, war in den Jahren 1926 bis 1929 gebaut worden; in den Zwanzigern galt ihre Technik als einmalig und wegweisend. Der Bau machte im ganzen Reichsgebiet Furore und wurde als Sinnbild für eine neue, freie Zeit gefeiert, doch im Herbst 1941 hätten es auch die Mutigsten nicht mehr gewagt, in der Öffentlichkeit an die Zeit von Hoffnung und Aufbruch zu erinnern.
    Für die jüdischen Bürger, denen es nicht gelungen war, die Stadt rechtzeitig zu verlassen und Rettung im Ausland zu suchen, war die einst mit Ehrfurcht bestaunte Großmarkthalle zur Endstation aller Hoffnung auf Leben geworden. Obwohl niemand offiziell von den sogenannten »Judenaktionen« und Deportationen wissen durfte, war doch bekannt geworden, was die Unglücklichen dort erwartete. Zunächst wurden sie in den Keller getrieben, zum wiederholten Mal auf Wertsachen untersucht, immer wieder aufs Neue gedemütigt und schikaniert, weder mit Essen noch mit Wasser versorgt, körperlich bestialisch gequält und schließlich in Eisenbahnwaggons nach Osten abtransportiert. Keiner wusste, wohin die Reise ging. Es gab täglich neue Gerüchte, die sich alle widersprachen und die die Menschen nicht glaubten, weil ihnen das Unglaubliche noch nicht begegnet war, und doch spürte ein jeder, dass es von der Großmarkthalle aus keine Rückkehr mehr geben würde. Frankfurt, die heiß geliebte Vaterstadt, hatte das letzte Band zu seinen Juden zerschnitten, hatte sie endgültig aus der Gemeinschaft seiner Bürger gestoßen und sie für vogelfrei erklärt.
    Die Großmarkthalle mit ihrer breiten Front und den vielen Fenstern machte den Verzweifelten für einen wunderbaren Moment den Mut, den sie brauchten, um nicht zusammenzubrechen und auf der Straße liegen zu bleiben. Das vertraute Haus zu sehen brachte den Trost, den die Verzweifelten immer noch zuließen. Jenen, die sich trotz allen Leides, das ihnen bereits widerfahren war, nicht vorzustellen vermochten, wie das letzte Kapitel ihres Lebens ausfallen würde, erzählte dieser falsche Trost Geschichten aus der Zeit ohne Demütigung und Verfolgung. Bildhafte Geschichten waren es, die die Seele beruhigten und Ängste linderten.
    Das Lauftempo der Geschundenen veränderte sich; die Schritte der Starken wurden länger und selbst die der Schwachen kräftiger und beherzter. Kinder an der Hand ihrer Mütter hoben den Kopf und zeigten ihr Gesicht. Am Ende des Weges wagten sie die Fragen, für die es keine Antworten mehr gab. Eine Frau, obwohl schon grauhaarig und mit altersschwerem Körper, trug mit einem Mal ihren großen Koffer, ohne zu keuchen oder ein einziges Mal stehen zu bleiben. Jeder konnte sehen, dass der Koffer mit mehr als den zugelassenen fünfzig Kilo bepackt war, doch die Grauhaarige hielt das mit einer dünnen Schnur umwickelte Gepäckstück, als wäre es eine kleine, leichte Reisetasche; sie schwenkte den schweren Koffer wie die sorglos reisenden Damen der Gesellschaft in der Vorkriegszeit ihre federleichten Hutschachteln. Einmal lachte die drängelnde Grauhaarige laut auf. Es war ein hysterisches Lachen aus einem weit aufgerissenen Schreckensmund. Die Frau begann zu rennen, sie rempelte einen alten Mann mit Rucksack an, überholte zwei Frauen mit drei kleinen Kindern, zog an einer humpelnden Greisin in abgetragenen orthopädischen Stiefeln vorbei, die ihre Habe in einem alten Kinderwagen schob, und lief eine Zeit
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