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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf
Autoren: Peter Wohlleben
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Ging es nicht auch ohne Chemie? Wie viel zerstörten Boden würde ich hinterlassen, wenn ich das Revier einst an meinen Nachfolger übergeben würde?
    Nein, das hatte ich so nicht gewollt! Von meinem ursprüng lichen Berufswunsch Naturschützer war ich weiter denn je entfernt. Der mir anvertraute Wald mit all seinen Bewohnern wurde nicht bewahrt, sondern zerstört. Ich handelte zweifellos im Rahmen der Dienstvorschriften und im Einklang mit den Anordnungen meiner Vorgesetzten, aber das konnte mein Gewissen nicht beruhigen. Hier musste sich etwas ändern.
    Der dringendste Handlungsbedarf bestand bei der Jagd. Der Wald der Gemeinde Hümmel war, zusammen mit den Feldern und Wiesen, in vier Jagdreviere eingeteilt, die alle verpachtet waren. In den vergangenen Jahrzehnten hatte es niemanden interessiert, wie die Wildbestände wuchsen, und meine Vorgänger hatten sich hierzu nie geäußert. Ganz im Gegenteil, mindestens einer jagte kostenlos bei den Pächtern und hielt im Gegenzug den Mund. In der Folge nahmen die Wildbestände immer weiter zu. Eichen, Buchen oder andere Laubbäume waren ausweislich der alten Betriebsunterlagen spätestens seit 1934 nicht mehr ohne schüt zende Zäune nachzuziehen, weshalb meine Vorgänger schließlich ganz darauf verzichtet hatten. Statt aber mahnend den Finger zu heben, pflanzten sie einfach nur noch Nadelbäume, die von Reh und Hirsch kaum angefressen wurden, und fällten weiterhin die gewinnträchtigen Laubbäume. So wurden die alten Eichen und Buchen gnadenlos abgeholzt und durch Fichten ersetzt.
    Als ich das Revier übernahm, waren viele Laubwälder diesen Weg gegangen. Die übrig gebliebenen dicken Eichen kann ich heute an zwei Händen abzählen, und als letzter Gruß ihrer Artgenossen blieb nur ein großer Lagerplatz für wertvolle Laubbaumstämme zurück, auf dem das kostbare Holz früher gleich Lkw-weise versteigert wurde. In den jungen Fichtenbeständen, die mittlerweile das Bild beherrschten, stolperte ich über meterdicke Baumstümpfe des früheren Laubwalds. Zwar gab es noch alte Buchenbestände, aber es war absehbar, dass diese bald verschwunden sein würden, wenn sich nichts änderte.
    Der Beginn der Veränderungen war eine Kommunalwahl, bei der ein neuer Bürgermeister, Rudolf Vitten, gewählt wurde. Dies war ein Glücksfall für mich, denn Rudi war in der Automobilbranche tätig und besaß betriebswirtschaftliches Fachverständnis. Wenige Wochen nach der Amtsübernahme bat ich um einen Außentermin. Wir rumpelten in meinem kleinen Suzuki-Jeep durch den Wald und ich zeigte Rudi die Folgen der bisherigen Wirtschaft. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, erklärte ich dem aufgeschlossenen Lokalpolitiker. »Entweder ich mache das noch zehn Jahre so weiter, plündere den Wald bis zum Ende und bewerbe mich danach auf ein anderes Revier – oder wir setzen uns auf den Hosenboden und ändern alles grundlegend.«
    Rudi verstand sofort, wo mich der Schuh drückte: Nachhaltiges Wirtschaften war nur möglich, wenn wir die jagdliche Situation bereinigen würden. Also wurde der Gemeinderat zusammengerufen, und an einem milden Sommerabend spazierten wir gemeinsam durch einen alten Buchenwald, dessen Nachwuchs in Kniehöhe durch Rehe abrasiert worden war. Uns allen war klar, dass wir viel Zeit brauchen würden, um die Jagdpächter von der Notwendigkeit höherer Abschüsse zu überzeugen. Um in der Zwischenzeit aber irgendetwas für den Baumnachwuchs zu tun, beschlossen die Hümmeler, Schutzzäune zu bauen.
    Kaum war der Bürgermeister wieder zu Hause, erhielt er einen erbosten Anruf des zuständigen Jagdaufsehers. Was denn der Gemeinderat in seinem Revier zu so später Stunde treiben würde? So etwas sei ohne Anmeldung bei ihm eine Ungeheuerlichkeit! Damit Sie das richtig verstehen: Der Gemeinderat ist der Hausherr in seinem Wald, der Jagdpächter der Gast und der Jagdaufseher der »Hilfssheriff« des Gasts. Aber zum damaligen Zeitpunkt war dies Normalität. Rudi kümmerte das jedoch wenig. Er war es auch, der gleich zu Beginn seiner Tätigkeit Schecks und Geldspenden, etwa für Dorffeste, seitens der Jäger zurückwies. »Wenn wir uns das nicht selber leisten können, ist es sowieso zu spät«, war sein Kommentar.
    Diese ehrliche Grundhaltung, gepaart mit einem freundlichen Wesen und absoluter Zuverlässigkeit, war der Schlüssel zu den Veränderungen, die von nun an rasant ihren Lauf nahmen. Dazu muss ich meine damalige dienstliche Stellung kurz erklären: Ich war Landesbeamter der
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