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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas
Autoren: C. K. Stead
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Kapitel 1
    Heute Nachmittag ließ mich mein guter Freund und Schwager Theseus zu sich rufen, weil er mir etwas zeigen wollte. Ich machte mich sofort auf den Weg durch den steil ansteigenden Olivenhain, der mich auf seine Terrasse führte, wo man über die Dächer meines Hauses und die meiner Familie freie Sicht bis zum Meer hat. Dank einer seltenen Wetterlage konnte man gut bis zum Horizont sehen. Theseus hatte mir schon öfter von dem Blick erzählt, der sich bei so klarer Sicht bot, und jetzt war eine gute Gelegenheit, um mir zu zeigen, was genau er meinte. Ich sollte mir eine eigene Meinung bilden.
    Ich bin im Landesinneren aufgewachsen, in Galiläa. Dort waren Tage mit klarer Sicht keine Seltenheit. In Tiberias etwa, wo mein Vater ein Haus hatte, konnte man über den See Genezareth bis zu den Golanhöhen sehen, oder im Norden bis zum Hermon, dessen schneebedeckter Gipfel sich gegen den blauen Himmel abzeichnete. Aber hier am Mittelmeer ist die Luft meist diesig, vor allem bei großer Hitze, wenn in der Ferne alles im Dunst verschwimmt und man oft nicht erkennen kann, wo das Meer endet und der Himmel anfängt. Dann zieht sich eine fein nuancierte Palette von Blautönen bis zum Horizont und verschluckt alles, was in der Ferne liegt.
    Heute aber war die Luft klar, und als ich mit Theseus auf seiner Terrasse stand, konnte ich tatsächlich den Horizont sehen. Das hatte er mir zeigen wollen. Es sah aus, als hätte ein Maler eine unzweideutige Linie zwischen Himmel und Erde gezogen.
    Nun, so Theseus, könne ich selbst sehen, was er mir vor einigen Tagen erzählt habe. Warum, fragte er, zeichne sich diese Linie so deutlich ab? Wenn wir so weit sähen, wie es das menschliche Auge nur vermochte, müsste die Sicht in der Ferne doch eigentlich abnehmen und alles konturlos werden. Das jedoch war nicht der Fall. Deutlich zeichnete sich jene Linie am Horizont ab. Was hatte das zu bedeuten? Jedenfalls nicht, dass die Welt dort zu Ende war. Segelschiffe konnten viel größere Strecken zurücklegen, ohne ans Ende der Welt zu stoßen, wie wir wussten. Es schien, als könnten sie unendliche Weiten durchqueren. Theseus selbst hatte gelegentlich beobachtet, dass Schiffe bis zur Horizontlinie gesegelt und dann verschwunden waren. Wenn das passierte, sagte er, sehe es aus, als würden sie untergehen und in der Tiefe versinken. Er wiederholte das Wort. Versinken . Dieser Vorgang interessierte ihn über die Maßen. Denn es verhalte sich nicht etwa so, dass das menschliche Auge ab einem bestimmten Punkt versage, vielmehr nähmen die Schiffe einen Kurs, auf dem sie sich ab einem bestimmten Punkt dem Blick entzögen. Wohin verschwanden sie dann?
    Unsere Sinne, sagte er, jetzt ganz in seinem Element, gäben uns die Antwort. Ich solle meinen Blick auf die Horizontlinie richten und ihr dann folgen, zuerst nach links, dann nach rechts, jeweils bis zum Ende. Ob mir die feine Krümmung auffalle, die kaum merkliche und doch wahrnehmbare Krümmung, die jene Horizontlinie in der Mitte höher erscheinen lasse als an ihren Rändern?
    Ich sah genau hin und ließ den Blick zuerst nach links schweifen, dann nach rechts. Mein Sehvermögen war immer außerordentlich gut gewesen, aber ich war nicht mehr der Jüngste und traute meiner Wahrnehmung nicht recht. Doch ich sagte, ja, mir scheine, da sei eine leichte Krümmung auszumachen.
    »Und das«, sagte Theseus, »ist schon die ganze Erklärung. Alles krümmt sich von uns weg. Wenn wir geradeaus schauen und diese deutliche Horizontlinie sehen, bedeutet es nichts anderes, als dass sich die Erdoberfläche vor uns wegkrümmt, abwärts , bis wir sie nicht mehr sehen können. Dieses Phänomen können wir nur wahrnehmen, wenn wir aufs Meer blicken und es so glatt ist wie heute, denn nur dann haben wir eine ebene Fläche vor uns. Vollkommen eben – nur dass sie sich krümmt!«
    Darauf entspann sich der gleiche Disput (halbherzig auf meiner Seite, leidenschaftlich auf seiner), den wir bereits einige Tage zuvor geführt hatten, als wir unter dem Sternenhimmel gesessen und Wein getrunken hatten. Da hatte er mir zum ersten Mal erklärt, was sein Freund, ein Astronom, ihm anvertraut hatte: dass die Erdoberfläche gekrümmt sei und die Erde »deswegen« eine riesige Kugel sein müsse – unvorstellbar groß, aber eine Kugel.
    Wie vor einigen Tagen meldete ich auch jetzt Zweifel an, schwieg dann aber.
    »Ist denn die Sonne keine Kugel?«, insistierte Theseus. »Und der Mond? Warum also sollte die Erde nicht ebenso
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