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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün
Autoren: Tana French
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Prolog
    STELLT EUCH EINEN SOMMER VOR wie aus einem Fünfzigerjahre-Kinderfilm in ländlicher Kulisse. Er ist weit entfernt von Irlands kaum zu unterscheidenden Jahreszeiten, die für den Gourmetgaumen angerührt werden, keine Aquarelltöne mit einer Prise Wolken und weichem Regen. Nein, dieser Sommer ist vollmundig und verschwenderisch in einem warmen klaren Siebdruckblau. Dieser Sommer explodiert auf der Zunge und schmeckt nach Grashalmen, eurem eigenen sauberen Schweiß, nach Doppelkeksen, aus denen die Cremefüllung quillt, und geschüttelten Flaschen roter Limonade, dem klassischen Baumhauspicknick. Er prickelt euch auf der Haut, wie der BMX-Fahrradwind im Gesicht, wie Marienkäferbeinchen auf den Armen. Er erfüllt jeden Atemzug mit frisch gemähtem Gras und wehender Wäsche an der Leine. Er klingelt und sprudelt über vor Vogelgezwitscher, Bienen, Blättern und hüpfenden Fußbällen und Abzählreimen, Eins! Zwei! Drei! Dieser Sommer wird nie enden. Er beginnt jeden Tag mit dem Klingeln des Eiswagens und eurem besten Freund, der an die Tür klopft, beendet ihn mit einer langen, gemächlichen Dämmerung und den Silhouetten eurer Mütter, die euch von der Haustür aus über die Balzrufe der Fledermäuse hinweg zum Abendessen rufen. Es ist der Ewigsommer in all seiner schönsten Pracht.
    Stellt euch einen ordentlichen kleinen Irrgarten von Häusern auf einem Berg vor, nur wenige Meilen von Dublin entfernt. Irgendwann, so verkündet die Regierung, wird daraus ein florierendes Vorstadtwunder werden, eine perfekt geplante Lösung für drängende Enge und Armut und überhaupt jedes städtische Übel. Vorläufig besteht das Ganze jedoch bloß aus einer Handvoll geklonter Doppelhäuser, die noch so neu sind, dass sie sich verschreckt und linkisch an den Hang klammern. Während die Regierung von McDonald’s und Multiplexkinos tönte, haben ein paar junge Familien – die den Mietskasernen und Außenklos entfliehen wollten, die von großen Gärten und Spielstraßen für ihre Kinder träumten oder sich mit einem Lehrer- oder Busfahrergehalt ein bescheidenes Eigenheim geleistet hatten – Kisten gepackt und sind über einen schmalen Feldweg mit einem Streifen Gras und Gänseblümchen in der Mitte zu ihrem strahlenden Neuanfang geholpert.
    Das ist zehn Jahre her, und das diffuse Neonlichtflimmern von Ladenketten und Stadtteilzentren, das unter der Überschrift »Infrastruktur« herbeigeredet wurde, ist bislang ausgeblieben; nur dann und wann wettern Hinterbänkler im Parlament gegen angeblich zwielichtige Grundstücksgeschäfte. Noch immer lassen Farmer ihre Kühe auf der anderen Straßenseite weiden, und auf den benachbarten Hängen schaltet die Nacht nur eine magere Ansammlung von Lichtern ein. Hinter der Siedlung, wo die Zukunftspläne das Einkaufszentrum und den hübschen kleinen Park vorsehen, breiten sich eine Quadratmeile und Gott weiß wie viele Jahrhunderte Wald aus.
    Kommt näher, folgt den drei Kindern, die über die dünne Membran aus Stein und Mörtel klettern, die den Wald von den Doppelhäusern fernhält. Ihre vorpubertären Körper sind stromlinienförmig und unverkrampft, wie leichte Flugapparate. Weiße Tattoos – ein Blitz, ein Stern, ein A – leuchten an den Stellen, wo die zurechtgeschnittenen Pflaster geklebt haben und die Sonne nicht hinkam. Eine Fahne aus weißblondem Haar flattert: einen Fuß aufgesetzt, ein Knie gegen die Mauer, rauf und drüber und weg.
    Der Wald ist lauter Geflimmer und Gemurmel und Illusion. Seine Stille ist eine pointillistische Verschwörung aus Millionen winziger Laute – Rascheln, Flattern, namenlose abgehackte Schreie. In seiner Leere wuselt heimliches Leben, huscht immer knapp außerhalb des Blickfeldes vorbei. Vorsicht: Bienen schwirren in den Spalten im Stamm der gebeugten Eiche. Bleibt stehen und dreht einen x-beliebigen Stein um, und seltsame Larven ringeln sich gereizt, während ein emsiges Band aus Ameisen sich an eurem Knöchel hinaufwindet. In dem verfallenen Turm einer verlassenen Festung klammern sich Brennnesseln so dick wie euer Handgelenk zwischen den Steinen fest, und im Morgengrauen holen Kaninchen ihre Jungen unter dem Fundament hervor, damit sie sich auf alten Gräbern tummeln können.
    Diesen drei Kindern gehört der Sommer. Sie kennen den Wald so gut wie die Kraterlandschaft ihrer aufgeschürften Knie. Stellt sie mit verbundenen Augen in irgendeine Mulde oder auf eine Lichtung, und sie fänden ohne einen Fehltritt den Weg hinaus. Das ist ihr Reich,
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