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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Autoren: Fred Vargas
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er würde lernen. Und dann würde man sehen, was man sehen würde.
    Na also, man hat's ja gesehen, hätte Simon gesagt, der alte Lump, der damals den Lebensmittelladen unten hatte. Immer der erste, wenn's darum ging, Leute niederzumachen. Er nannte Clement »ein sauberes Früchtchen«. Der Gedanke an den alten Dreckskerl weckte Marthes Energie. Sie wußte, was sie zu tun hatte.
    Sie erhob sich, klappte ihren Stuhl zusammen und sammelte ihre Tüten ein.
    »Komm«, sagte sie. »Wir bleiben nicht hier.«
     

4
     
    Marthe wohnte jetzt in einem Zimmer im Erdgeschoß in einer kleinen Sackgasse in der Nähe der Bastille.
    »Das hat ein Freund für mich besorgt!« sagte sie stolz zu Clement, als sie die Tür öffnete. »Wär da nicht mein ganzes Durcheinander, würde das was hermachen. Das Geschäft auf den Quais auch. Er heißt Ludwig. Hättest du gedacht, daß ich eines Tages Bücher verkaufen würde? So von einem Trottoir zum nächsten kann einem alles passieren, weißt du.«
    Clement folgte ihr nur halb.
    »Ludwig?«
    »Das ist der Freund, von dem ich dir erzähle. Ein Mann, wie du nur wenige findest. Und du weißt, daß ich mich mit Männern auskenne. Leg dein Akkordeon ab, du ermüdest mich, Clement.«
    Clement wedelte mit der Zeitung herum, er hätte gerne geredet.
    »Nein«, sagte Marthe. »Leg erst dein Akkordeon ab und setz dich, du siehst doch, daß du dich kaum noch auf den Beinen halten kannst. Du wirst mir das mit dem Akkordeon noch erklären, aber das eilt nicht. Hör mir zu, mein kleiner Mann: Wir essen was zu Abend, wir trinken ein ordentliches Glas, und dann erzählst du mir in aller Ruhe deine Geschichte. Man muß die Dinge in der richtigen Reihenfolge tun. Während ich das Essen vorbereite, machst du dich frisch. Und stell jetzt das Akkordeon ab, verdammt.«
    Marthe führte Clement in eine Ecke des Zimmers und zog einen Vorhang beiseite.
    »Guck mal«, sagte sie. »Ein richtiges Badezimmer. Da bist du platt, was? Du nimmst jetzt ein heißes Bad, weil man immer ein heißes Bad nehmen soll, wenn es einem nicht gut geht. Wenn du was Sauberes zum Anziehen hast, dann zieh dich um. Und gib mir deine schmutzigen Sachen, ich kümmere mich heute abend drum. Bei der Hitze trocknet das schnell.«
    Marthe ließ Wasser ein, schob Clement in Richtung Badezimmer und zog den Vorhang zu.
    Zumindest würde er nicht mehr nach Schweiß riechen. Marthe seufzte, sie machte sich Sorgen. Sie nahm leise die Zeitung und las langsam den ganzen Artikel auf Seite sechs. Die junge Frau, deren Leiche man am Morgen zuvor gefunden hatte, wohnte in der Rue de la Tourdes-Dames; sie war niedergeschlagen, erwürgt und mit achtzehn Stichen durchbohrt worden, vielleicht mit einer Schere. Ein Gemetzel. »Man setzt große Hoffnungen in die Zeugenaussagen der Anwohner, die übereinstimmend einen Mann erwähnen, der in den Tagen vor dem Mord täglich vor dem Gebäude des Opfers gestanden hat.« Das Geräusch von Wasser ließ Marthe aufschrecken, Clement ließ sein Badewasser ab. Marthe schob behutsam die Zeitung beiseite.
    »Setz dich, mein Junge. Es kocht.«
    Clement hatte sich umgezogen und gekämmt. Er war nie schön gewesen, was vielleicht an seiner runden Nase, seiner fahlen Haut und vor allem an der Leere in seinen Augen lag. Marthe sagte, das komme, weil sie so dunkel seien, daß man die Pupille nicht von der Iris unterscheiden könne, aber wenn man sich bitte schön mal die Mühe machen würde, dann sähe er so schlecht doch gar nicht aus, und außerdem, was hatte das schließlich für eine Bedeutung. Während sie weiter die Nudeln umrührte, wiederholte Marthe im Geist die Suchmeldung, die die Zeitung im Anschluß an den Artikel abgedruckt hatte: »... die Ermittlungen richten sich auf einen jungen Mann weißer Hautfarbe zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren, klein, mager oder sehr schmal, lockiges, helles Haar, glattrasiert, einfach gekleidet, graue oder beige Hosen, Turnschuhe.« Die Polizei sei in der Lage, in zwei Tagen ein Phantombild zu liefern, vielleicht früher.
    Graue Hose, präzisierte Marthe und warf einen kurzen Blick auf Clement.
    Sie füllte die Teller mit Nudeln und Käse und gab ein weichgekochtes Ei über das Ganze. Clement starrte wortlos auf sein Essen.
    »Iß«, sagte Marthe. »Nudeln werden schnell kalt, niemand weiß, warum. Blumenkohl dagegen bleibt lange heiß. Frag, wen du willst, du wirst niemanden finden, der dir sowas erklärt.«
    Clement hatte noch nie beim Essen reden können, er war unfähig,
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