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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Autoren: Fred Vargas
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nichts mehr anging.
    Nach dem Fall mit dem Hundehaufen auf dem Eisengitter hatte er beschlossen, sich nicht mehr in die Verbrechen dieser Welt einzumischen, da er es lächerlich fand, eine Karriere als unbezahlter Kriminalist anzufangen, nur weil er in fünfundzwanzig Jahren Tätigkeit im Innenministerium solche schmutzigen Gewohnheiten erworben hatte. Solange er noch mit einer Mission betraut war, war ihm seine Arbeit immer statthaft vorgekommen. Jetzt, wo er allein seiner schlechten Laune ausgesetzt war, schien ihm die Arbeit eines Ermittlers immer mehr der fragwürdigen Tätigkeit eines Schnüfflers und Skalp-Jägers zu ähneln. Wenn man ganz allein einem Verbrechen nachschnüffelte, obwohl niemand einen dazu aufgefordert hatte, wenn man sich auf die Zeitungen stürzte, Artikel anhäufte - was war das anderes als eine heikle Zerstreuung und ein zweifelhaftes Lebensmotiv?
    So hatte Kehlweiler, ein Mann, der sich rasch selbst verdächtigte, bevor er andere verdächtigte, der freiwilligen kriminalistischen Arbeit, die ihm plötzlich zwischen Perversion und Groteske zu pendeln schien, den Rücken gekehrt; und doch drängte ein dunkler Teil seines Ichs immer wieder dahin. Jetzt, wo er sich stoisch auf die alleinige Gesellschaft von Bismarck beschränkt hatte, überraschte er seine Gedanken dabei, wie sie im Irrgarten überflüssiger Häuslichkeit herumtollten. Mit Plastikschachteln fängt es an, und man weiß nicht, wo es enden wird.
    Louis ließ die leere Flasche in den Mülleimer fallen. Er warf einen Blick auf den Schreibtisch, wo drohend die zusammengefaltete Zeitung lag. Bufo, die Kröte, war vorübergehend aus dem Schlaf erwacht und hatte sich auf der Zeitung breitgemacht. Louis hob sie vorsichtig hoch. Er fand, seine Kröte war ein Betrüger. Sie tat so, als sei sie im Winterschlaf, und das mitten im Sommer, aber das war eine Finte, sie bewegte sich, sobald man sie nicht mehr ansah. Um die Wahrheit zu sagen: Bufo hatte unter dem Einfluß der Häuslichkeit all ihr Wissen zum Thema Winterschlaf verloren, weigerte sich aber aus Stolz, das zuzugeben.
    »Du bist ein dämlicher Purist«, sagte Louis zu ihr und setzte sie wieder in die Stiftablage. »Dein alberner Winterschlaf beeindruckt niemanden, was denkst du dir? Du brauchst nur das zu tun, wozu du in der Lage bist, und Schluß.«
    Mit einer langsamen Bewegung zog er die Zeitung zu sich heran.
    Er zögerte eine Sekunde, dann schlug er Seite sechs auf. Ein zweites Mordopfer in Paris aufgefunden.
     

2
     
    Clement hatte panische Angst. Jetzt hätte er Grips gebraucht, aber Clement war ein Idiot, seit mehr als zwanzig Jahren hörte er nichts anderes. »Clement, du bist ein Idiot, streng dich an.«
    Der alte Lehrer im Erziehungsheim hatte sich große Mühe gegeben. »Clement, streng dich ein bißchen an und versuche, an mehr als eine Sache zugleich zu denken, zum Beispiel an zwei Sachen zugleich, verstehst du? Nimm das Beispiel mit dem Vogel und dem Zweig. Denk an den Vogel, der sich auf den Zweig setzt. Klein a, der Vogel, klein b, der Regenwurm, klein c, das Nest, klein d, der Baum, klein e, du ordnest deine Ideen, du verknüpfst sie, du denkst dir etwas aus. Kapierst du den Trick, Clement?«
    Clement seufzte. Er hatte Tage gebraucht, um zu verstehen, was der Regenwurm in der Geschichte verloren hatte.
    Denk nicht mehr an den Vogel, denk an heute. Klein a, Paris, klein b, die ermordete Frau. Clement wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. Sein Arm zitterte. Klein c, Marthe in Paris finden. Seit Stunden suchte er sie jetzt, fragte überall nach ihr, fragte alle Prostituierten, denen er begegnete. Mindestens zwanzig, oder vierzig, na ja, viele jedenfalls. Es war doch nicht möglich, daß sich niemand mehr an Marthe Gardel erinnerte. Klein c, Marthe finden. Clement ging weiter, es war Anfang Juli, er schwitzte in der großen Hitze; sein blaues Akkordeon hielt er unter den Arm geklemmt.
    Vielleicht hatte sie, hatte seine Marthe Paris verlassen, seitdem er vor fünfzehn Jahren weggegangen war. Oder vielleicht war sie gestorben.
    Abrupt blieb er mitten auf dem Boulevard du Montparnasse stehen. Wenn sie Paris verlassen hatte, wenn sie gestorben war, dann war er erledigt. Erledigt, er war erledigt. Nur Marthe würde ihm helfen, nur Marthe würde ihn verstecken. Die einzige Frau, die ihn nie als Kretin behandelt hatte, die einzige, die ihm mit der Hand durchs Haar gefahren war. Aber was nutzt eine Stadt wie Paris, wenn man niemand darin findet?
    Clement packte sich
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