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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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könnte, es habe ihn nie gegeben, beschwören die blinden Flecken vor den Häusern, kleinste Landstriche, die für Schlitten, Schlittenhunde und Schneemobile freigehalten werden, im Grunde Schablonen, das Bild frischgefallenen Schnees, nur derjenige im Sommer ist braun, teilweise begrünt und schlammig bei Regen.
    Sie folgen dem Straßenverlauf in Richtung Heliport, bergauf, immer bergauf, bis sie nach drei Kurven stehen bleiben, schräg gegenüber vom Kleinen Kaufmann , einem Greißler, in dem auf drei gerade noch roten Regalböden vier Kekssorten, zwei Nudelsorten, altes abgepacktes Brot, abgelaufener Sugo im Glas, chinesische Instant-Nudelsuppen, Mehl, Zwieback, Haltbarmilch und Anhänger für heimatlose Schlüssel erhältlich sind. Diese Gegend ist nachts dunkler als der dunkelste Platz Amarâqs, da es bloß eine Straßenlaterne gibt, die sie beleuchtet, und trotz der Überfülle an Wasser, trotz des Regens, der die benachbarten Seen speist und den Fluss, haben die Häuser in diesem Stadtteil kein fließendes Wasser, keine Kanalisation, sie sind kleiner, hüttenhafter und werden von den Ärmeren und Ärmsten bewohnt. Einmal in der Woche fährt der Jauchewagen durch dieses Viertel, um die gefüllten Kotsäcke aus den Plumpsklos abzuholen, das Wasser muss aus einem der grüngestrichenen Miniaturblockhäuser gezapft werden, der Hahn ist für die Kinder meistens außer Reichweite, sie müssen auf einen Stein steigen, um ihre Eimer zu füllen; Wasserholen ist die Aufgabe der zehnjährigen Buben.
    Das Viertel der einstöckigen Häuser, die mit fließendem Wasser und Elektrizität ausgestattet sind, ist in der Nähe des Hafens –
    aber Armut in Amarâq ist relativ, solange der Einzelne keine Freiheit fordert und in der Gemeinschaft glücklich ist, dann wird alles geteilt, und alle besitzen ausschließlich das eine, nämlich sich selbst. Und dieser Besitz, der akkurat durch die Grenzen der Haut abgesteckt ist, wird lediglich im Schlaf in Frage gestellt, wenn die Seele des Schlafes den Körper verlässt und einen Zustand verursacht, der jenem der Einsamkeit ähnelt: Betäubung.
    Wir sind da, sagt Jens und steigt aus, das ist Johannas Haus, antwortet Sivke und bleibt stehen, um ihr Kleid glattzustreichen.
    Er zog sie mit sich durch den Notausgang auf die andere Seite des Pakhuset , wo auf der schmalen Straßenausbuchtung im schwachen Schein des Notlichts geraucht wurde: Die Nacht war an dieser Stelle mit rötlich glimmenden Tupfen übersät, die sich zu Schritten bewegten, zum Atem. Er stellte Julie in die lichtfreie Ecke, schlüpfte neben sie und drückte sie gegen die Mauer, während er ihren Hals, die Halsbeuge, ihren Nacken und ihr Gesicht küsste, sanft den Träger von ihrer Schulter zog und die andere Hand unter dem Stoff über den Bauchnabel und die Rippen in Richtung Büstenhalter robben, vorsichtig das eine, dann das andere Körbchen herunterklappen und die Brüste streicheln ließ, und Julie erwiderte seinen Kuss, seine Berührungen, steckte ihre Hand in seine Hose, strich über seinen Bauch, die Oberschenkel –
    als sie unterbrochen wurden, angesprochen und angeschubst. Hej, lallte es aus der Dunkelheit, habt ihr Bier für mich? Per ließ sich nicht ignorieren, Jens holte seine Hände ein, packte Per am Kragen, zerrte ihn ins Innere und stieß ihn auf die Tanzfläche.
    Fahren wir zu dir?
    Julie drückte Jens’ Hand, er nickte, und sie kletterten über den einzigen Zaun in Amarâq, er war wackelig und sollte doch Zechpreller abhalten, und schlenderten zum parkenden Auto. Im Wagen duftete es nach künstlichen Tannen, ein Duft, der Julie exotisch erschienen war, als sie ihn das erste Mal gerochen hatte, vor genau einer Woche. Sie nahmen die Straße zum Hafen, zur einzigen Tankstelle der Stadt, fuhren am Fjord entlang, vorbei am Krankenhaus, an der Schule, am großen Pilersuisoq , dem Allesmarkt, und an der Polizeistation, Julie kurbelte das Fenster hinunter und steckte ihren Kopf in den Fahrtwind, sie lachte nicht, aber sie lächelte, breit, auch die geschlossenen Augen lächelten mit und die Augenbrauen, und Jens, der sie von der Seite her musterte, fühlte sich an seinen Hund erinnert: Könnte sie ihre Ohren aus dem Fenster hängen, im Wind flattern lassen, sie würde es tun.
    Wir sind da, sagte er und ging voraus, wie gefällt es dir in unserem alten Haus?, fragte Julie und blieb stehen, um ihr Kleid glattzustreichen.
    Amarâq liegt am Ende der Welt, es ist ein Ortschlucker: ein Ort, der einen ebenso
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