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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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Braun der Erde, die Fellzeichnung der Robbe im Muster der Steine, nur der Eisberg ist plötzlich da, zwar hat er die Farbe der Wolken gestohlen, das Blau des Fjordes, doch ist er die Ausnahme, das ist sein Wesen und Prinzip; er ist ein Bruch in der Landschaft.
    Weil sie ihren Blick nicht vom Eis abwenden konnte, stieß Sara mit dem einzigen Menschen zusammen, der wie sie in die Ferne starrte: eine kleine, in Weiß gehüllte Gestalt mit braunen, schulterlangen Haaren, Stirnfransen, die störrisch ins Gesicht hingen, als versuchten sie, die Außenwelt abzuschirmen, und Augen, die halb voll und halb leer zu sein schienen, gleichzeitig anwesend und abwesend, und verwirrt wandte sich die Fremde ab, ignorierte Sara, als diese, ebenfalls verwirrt über die Ungeheuerlichkeit, in dieser Weite in einen Menschen zu laufen, hej rief und sich nicht übersehen ließ. Daraufhin drehte sich die Frau in der weißen Jacke, die selbst so aussah wie ein Eisberg, um und stellte sich vor. Sie sei Malin, sagte sie, sie sei erst gestern angekommen, das wisse sie, antwortete Sara, sie seien im selben Flugzeug gewesen, und sie fügte hinzu, ihr Name sei Sara Lund.
    Noch am selben Tag schlossen sie Freundschaft, wenn auch eine, von der beide wussten, dass sie nicht länger halten würde als diesen Tag und die restlichen dreizehn Tage, bis Malin Olsen wieder nach Hause fliegen würde, aber vorher, sagte sie, habe sie noch etwas zu erledigen, und schwieg, und Sara drang nicht weiter in sie, denn plötzlich hatte Malin eine Melancholie eingeholt, die an Trauer grenzte.
    Im Grunde, dachte Sara, ist Amarâq ein mehrdeutiger Ort: Die Eisberge sind Wasser, das Berge nachahmt, die Menschen in ihrer Fellkleidung imitieren Robben, die düsteren Wolken im Zwielicht Bergketten am Horizont und der Nebel Wolken, die sich auf die Erde verirrt haben.
    Malin und Sara trafen sich anfangs widerwillig. Sie versuchten, einander aus dem Weg zu gehen, bis sie feststellten, dass sie mit niemandem sonst reden konnten, und obwohl jede ihre Gründe hatte, das Schweigen vorzuziehen, fesselte sie das Sprechen aneinander.
    Zuerst hatten sie gemeinsam geschwiegen, diese gemeinsame Stille hatte sich in stockende Sätze verwandelt und schließlich in ein Gespräch, in dem es keine überflüssigen Worte gab. Später trafen sie sich freiwillig, jeden Abend im unbeleuchteten Restaurant bei der Hotelbar, in der es eine große Auswahl an Spirituosen gab, jedoch ausschließlich zur Dekoration, die Flaschen waren leer. Sie saßen dicht am Fenster, das eine Aussicht auf Amarâq bot und durch seine Größe und Höhe die Illusion vermittelte, man säße im Freien, im Licht des Mondes, hier erzählte Malin, warum sie nach Amarâq gekommen war: nicht, um Urlaub zu machen. Sara hätte ihr das ohnehin nicht geglaubt, denn wann immer sie Malin in der Stadt gesehen, beobachtet hatte, war diese nie an der Landschaft interessiert gewesen, sondern nur an den Menschen, sie hatte sie angestarrt, als versuchte sie, sich an ein Gesicht zu erinnern.
    Sie suche einen Mann, gestand Malin an diesem Abend, an dessen Aussehen sie sich kaum erinnern könne, sie habe ein vages Bild vor Augen, aber es sei unzuverlässig, denn es sei weniger ein Bild, vielmehr ein Gefühl: Sie suche ihren Vater –
    und Malin lachte, als wollte sie mit ihrem Lachen dieses Geständnis wegwischen, als wäre es eine Lächerlichkeit, die man weglachen könnte und die vergessen wäre, sobald das Lachen verklungen war, aber es stand im Raum und ließ sich nicht herunterspielen, auch weil Sara es ernst nahm. Sie sagte, dass auch sie die Sehnsucht nach der Geborgenheit, die man Eltern nennt, habe, obwohl dies im Grunde eine Lüge sei, denn sie habe diesen Wunsch nie gespürt, sie habe von ihren Eltern, den echten und unechten, genug und sich nichts so sehr gewünscht, als sie nie wiedersehen zu müssen, das habe sie zumindest geglaubt –
    bis sie, mit Malins Sehnsucht konfrontiert, erkennen musste, dass auch in ihr eine ähnliche Sehnsucht lebe, aber auch ihr Vater sei, wie Malins Vater, gesichtslos, ebenso ihre Mutter.
    Sara beschloss, Malin bei der Suche zu helfen, gemeinsam befragten sie die Bewohner Amarâqs, doch sie kamen kaum voran, da sie deren Sprache nicht verstanden, und Sara spürte, wie Malin ermüdete, wie sich in ihr Resignation ausbreitete, aber sie wollte nicht, dass ihre Freundin aufgab, sie wollte den Vater finden, denn mit der Zeit meinte sie, es hinge mehr davon ab, als sie zugeben wollte: Sie glaubte sich
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