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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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gerettet, wäre der Vater, ein Vater gefunden.
    Nach einer Woche endlich erhielten sie die Information, dass sie den Mann, der Malins Vater sein könnte, beim Waschhaus antreffen würden, denn er sei obdachlos und schlafe manchmal neben der Waschmaschine.
    Jeden Tag ging Malin in die Waschküche, aber an keinem fand die ersehnte Begegnung statt: Sie traf ihn nicht an, solange sie auch wartete. Schließlich brach der Morgen an, an dem Malin wieder nach Kopenhagen zurückfliegen musste, an diesem Tag ging sie nicht ins Waschhaus, sondern sofort zum Heliport und stieg, ohne sich umzusehen, in den Hubschrauber. Dass sie unverrichteter Dinge abfliegen musste, hinterließ einen Zwiespalt in ihr: Sie war enttäuscht, weil der Wunsch, den Vater zu sehen und mit ihm zu sprechen, unerfüllt geblieben war, aber sie war auch erleichtert, weil sie zu wissen glaubte, dass das reale Bild des Vaters ihrer Vorstellung nicht, nie entsprechen würde. Vielleicht war es besser, ihn nicht getroffen zu haben, dachte sie, als sie in den Helikopter stieg, und noch während sie den Sicherheitsgurt festzurrte, begann sie Amarâq, ihre Enttäuschung und Sara zu vergessen.
    Sie wusste nicht, dass der Gesuchte die Nacht zuvor neben der Waschmaschine verbracht hatte, dass er in den letzten Wochen in den Bergen umhergestreunt war, um sich den Anschein zu geben, er jage, als könnte das sein Ansehen innerhalb der Gemeinschaft wiederherstellen. Und sie erlebte nicht, dass er, als er von ihrem Besuch erfuhr, so schnell er konnte zum Heliport lief, sie aber um eine Stunde verpasste, dass er dennoch in den Himmel starrte, als könnten seine Augen sie zurückholen, und er sich fragte, wie sie wohl heute, nach mehr als zwanzig Jahren, aussehen würde, ob sie noch immer die gleichen Gesichtszüge trüge oder ob sie eine vollkommen Fremde geworden wäre, ein Spiel, das er all die Jahre als Heimatloser Abend für Abend in den Straßen Nuuks gespielt hatte, in den Nächten, die so bitterkalt gewesen waren, dass er von Treppenhaus zu Treppenhaus gezogen war.
    Durch die eingeschlagenen Scheiben hatte der Wind geblasen, und um die wenigen warmen Winkel hatte er sich prügeln müssen. Nachdem er mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden war, schickte ihn die Stadtverwaltung zurück nach Hause, in Amarâq würde ein Häuschen auf ihn warten. Zunächst hatte er sich geweigert, am Ende der Welt, hatte er gedacht, würde seine Tochter ihn niemals finden, doch dann hatte er zugestimmt, denn er hatte keine Antwort auf die Frage gefunden, warum sie ihn überhaupt würde finden wollen.
    Keyi senkte den Kopf, schulterte seinen Rucksack und ging in Richtung Stadtzentrum. Er wurde das Gefühl nicht los, eine Gelegenheit verpasst zu haben, die niemals wiederkehren würde.
    Sofort nach Malins Abreise breitete sich in Sara eine große Einsamkeit aus. Die Gespräche mit Malin waren, obwohl zäh und schleppend, doch trostreich gewesen, und noch etwas hatten sie in ihr geweckt: die Lust zu leben. Dass sie den Vater nicht finden konnten, erschien ihr wie ein Urteil.
    Wie oft hatte sie sich überlegt, auf welche Art sie sich umbringen könnte, sie hatte sich, seit sie zurückdenken konnte, dazu berufen gefühlt, den Zeitpunkt des Todes selbst zu bestimmen –
    berufen ist das falsche Wort: Sie war mit dem Wunsch geboren worden, sich zu töten, für sie war dies die natürliche Art zu sterben, alles andere, Tod durch Krankheit, Tod im Alter, war für sie unnatürlich und sinnlos. Sterben hatte ihrer Ansicht nach einen Sinn zu erfüllen, und dieser bestand darin, ein Leben zu beenden. Ein sinnvoller Tod konnte aber nur einer sein, der gewollt, geplant war, ein plötzlicher Tod ergab für sie keinen Sinn, denn er war zwecklos, unbeabsichtigt, zufällig, und für diese Art von Zufall konnte sich Sara nicht erwärmen. Dabei hatte sie sich nie mit Theorien über Suizid auseinandergesetzt, sie hatte keine Bücher über ihn gelesen, keine philosophischen Abhandlungen, er hatte als Möglichkeit immer in ihr existiert, seit sie sich erinnern konnte.
    Er war aber mehr als das: Er war ihr letzter Ausweg, der Plan, der aktiviert würde, wenn alle anderen Pläne scheiterten. Er war ihre Versicherung, dass sie nichts im Leben verletzen könnte, er war eine Art Schutzschild, die Schicht zwischen ihrer eigenen Haut und der Haut der Welt, die alles von ihr abhalten würde. Auf ihn konnte sie sich verlassen, er würde immer da sein, er konnte sie nicht verlassen, da sie ihn nie
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