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Seine Exzellenz Eugène Rougon

Seine Exzellenz Eugène Rougon

Titel: Seine Exzellenz Eugène Rougon
Autoren: Emile Zola
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Kapitel 1
     
    Der Präsident stand noch an seinem Platze inmitten der leichten
Bewegung, die sein Eintritt in der Versammlung hervorgerufen hatte.
Dann setzte er sich und sagte halblaut in nachlässigem Tone:
    »Die Sitzung ist eröffnet.«
    Und er ordnete die Gesetzentwürfe, die vor ihm auf dem
Schreibpulte niedergelegt waren. Zu seiner Linken las ein
kurzsichtiger Sekretär mit der Nase auf dem Papier das Protokoll
der letzten Sitzung mit einem raschen Gemurmel, das kein
Abgeordneter anhörte. In dem Lärm des weiten Saales drang seine
Stimme nur an die Ohren des Hausbeamten, die sehr würdig und
gemessen angesichts der nachlässigen Haltung der Kammermitglieder
dastanden.
    Es waren nicht hundert Abgeordnete anwesend. Die einen lehnten
sich halb auf den roten Samtbänken zurück mit traumhaften Blicken
und wollten schon einnicken. Andere beugten sich über den Rand
ihres Pultes, als ob diese langweilige Zwangsarbeit einer
öffentlichen Sitzung sie niederdrücke und trommelten mit den
Fingerspitzen auf dem Pulte. Durch das Glasdach, das einen grauen
Halbmond am Himmel ausschnitt, fiel das Licht des regnerischen
Mainachmittags senkrecht herein und beleuchtete die strenge Pracht
des Saales gleichmäßig. Das Licht flutete an den staffelweise
aufgestellten Sitzbänken in einem langen, rötlichen Streifen hin;
sein gedämpfter Glanz brach sich hier und da rosig an den
Eckverzierungen der leeren Bänke, während
die nackten Standbilder und Skulpturen hinter dem Präsidenten ganze
Felder weißen Lichtes festhielten.
    Ein Abgeordneter von der dritten Bank rechts war in dem engen
Durchgang stehengeblieben. Er strich seinen rauhen, schon ins Graue
spielenden Bart und schien in tiefes Sinnen versunken. Als ein
Hausbeamter heraufkam, hielt er ihn an und richtete halblaut eine
Frage an ihn.
    »Nein, Herr Kahn,« versetzte jener, »der Herr Präsident des
Staatsrates ist noch nicht da.«
    Herr Kahn setzte sich. Dann wandte er sich plötzlich an seinen
Nachbar zur Linken und fragte:
    »Sagen Sie, Béjuin, haben Sie heute früh schon Rougon
gesehen?«
    Herr Béjuin, ein mageres, schwarzes Männchen, dem man es ansah,
daß er nicht viel Worte zu machen pflegte, hob den Kopf mit
unruhigem Blick; seine Gedanken waren offenbar anderswo. Er hatte
die Klappe seines Pultes herausgezogen und war mit Briefschreiben
beschäftigt. Das blaue Papier hatte am Kopfe eine kaufmännische
Inschrift: Béjuin & Co., Kristallwarenfabrik zu Saint
Florent.
    »Rougon?« wiederholte er. »Nein, den habe ich nicht gesehen. Ich
habe keine Zeit gehabt, im Staatsrate vorzusprechen.«
    Darauf fuhr er mit ernster Miene in seiner Arbeit fort. Er sah
in einem Hefte nach und schrieb seinen zweiten Brief unter dem
Gesumme des Sekretärs, der endlich seine Vorlesung beendigte.
    Herr Kahn legte sich mit gekreuzten Armen zurück. Der Ausdruck
seines scharfgeschnittenen Gesichtes, dessen starke, wohlgebildete
Nase jüdische Herkunft verriet, blieb übelgelaunt. Er betrachtete
die Goldrosetten der Saaldecke, das Geriesel eines Regenschauers,
der sich eben auf die Scheiben des Daches entlud; dann schien er
ganz in die Untersuchung der mannigfaltigen
Verzierungen an der großen Wand versunken, die er vor sich hatte.
In den beiden Ecken wurden seine Blicke vorübergehend durch die mit
grünem Samt bekleideten Felder gefesselt, die mit vergoldeten
Abzeichen und Einfassungen bedeckt waren. Dann maß er die
Säulenpaare, zwischen denen die Standbilder
der 
Freiheit
 und der
öffentlichen
Ordnung
 ihr Marmorantlitz mit den ausdruckslosen
Augäpfeln zeigten, und endlich versenkte er sich in den Anblick des
grünseidenen Vorhangs, der die Freske bedeckte, auf der Ludwig
Philipp, den Eid auf die Verfassung leistend, dargestellt ist.
    Inzwischen hatte sich der Sekretär gesetzt. Der Lärm im Saale
dauerte fort, während der Präsident gemächlich in seinen Papieren
blätterte. Er legte die Hand gewohnheitsgemäß an den Schwengel der
Glocke, deren helles Läuten niemandem im Gespräche störte. Inmitten
des Lärmes blieb er einen Augenblick wartend stehen.
    »Meine Herren,« begann er darauf, »ich habe einen Brief
erhalten … «
    Er hielt inne, klingelte aufs neue, wartete wieder, mit seinem
ernsten und gelangweilten Antlitz das monumentale Pult überragend,
das unter ihm seine roten, weißumrahmten Marmorfelder den Blicken
darbot. Sein zugeknöpfter Überrock hob sich scharf von der
erhabenen Arbeit hinter dem Pulte ab und zog einen schwarzen
Streifen durch die weißen
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