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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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    Es schien Nagl, als sei es das Normalste, sich selbst aufzugeben. Jeder wehrt sich dagegen, bis der Widerstand erlischt und die Selbstaufgabe den geheimen Haß erzeugt, zu sehen, wie sich auch die anderen aufgeben. Das ist die einzige Befriedigung und der einzige Sinn. Wenn alle sich aufgeben, ist es offensichtlich notwendig. Ein Gesetz.
    Es ging wie von selbst, doch oft spürte er einen kleinen Schmerz der Demütigung, den er schnell unterdrückte.
     
    Er war bis zur Bushaltestelle gegangen und hatte sich neben die Frau in den dunkelroten Volkswagen gesetzt. Am Automaten vor dem Kaufmannsladen waren alle Fächer aufgerissen und mit Bananenschalen, Pappbechern und anderem Abfall vollgestopft. Das war schon seit Monaten so. Niemand nahm den Mist heraus und warf ihn weg. Das Auto hielt mit dem Bremsgeräusch, das ihm auf die Nerven ging, und die Frau des Gendarmen lehnte sich nach hinten und angelte nach einem Plastiksack, in dem sich ein Damenstiefel befand.
    »Ich habe einen Absatz verloren«, sagte sie. Er wollte nicht im Auto sitzen bleiben und folgte ihr in den Hof. Vor der Schusterwerkstatt standen verfallene Stellagen mit honigfarbenen Fußmodellen aus Holz, die zur Maßanfertigung verwendet worden waren. Sie waren zum Teil gesprungen oder zerbrochen, von manchen Modellen war nur ein Stück vorhanden, und der Staub hatte sie wie Gerümpel aussehen lassen. Die Holzmodelle waren mit Frauennamen beschriftet.
    Nagl schaute durch das Fenster in die Werkstatt, ein kleines Zimmer, in dem der Schuster saß. Neben ihm stand eine Petroleumlampe mit einem von buntem Dekor verzierten Schirm. Solche Lampenschirme hatte sein Großvater um die Jahrhundertwende gemacht. Er hatte Medizinfläschchen, Briefbeschwerer, Gläser und Vasen hergestellt, von denen sicher kaum mehr etwas existierte.
     
    Als die Frau des Gendarmen zurückkam, sagte Nagl, daß er es sich überlegt habe.
    »Soll ich nicht mitkommen?«, fragte die Frau.
    »Nein, ich habe es mir überlegt.«
    »Ich werde dich heimbringen«, sagte die Frau, während sie sich setzte und den leeren Plastiksack neben sich legte. Als er den Kopf schüttelte, fuhr sie davon. Es war ein kalter Wintertag.
    Es war der letzte Tag des Jahres.
     
    »Immer glaube ich, daß das Leben noch vor mir liegt, als hätte ich mein bisheriges nur für eine kurze Zeit eingerichtet und das eigentliche würde ich in nicht allzu ferner Zukunft beginnen«, dachte Nagl.
    »Es geschieht einfach mit mir«, dachte er weiter. »Ich lebe in den Tag hinein, ohne viele Fragen zu stellen. Zumeist kommt es mir ganz selbstverständlich vor, so daß ich nicht darüber nachdenke. Ich wehre mich weder, noch füge ich mich, ich sage mir auch nicht, daß ich keine Wahl habe.«
     
    Vor dem Friseurladen am Ende der Dorfstraße traf er auf das Begräbnis des Tierarztes.
    Die Blasmusik war vorbeigezogen, jetzt folgten Männer in Tracht und Lodenmänteln, Feuerwehr in Uniform und ein Feuerwehrwagen, der mit einem Seil den kranzgeschmückten DKW-Lieferwagen durch den lehmgelben Schnee abschleppte, weil er in der Kälte nicht angesprungen war. Da es am Vormittag geregnet hatte, trugen die Bauern eingerollte Regenschirme. In ihren Gesichtern sah Nagl die Finsternis, aus der sie kamen und in die sie zurück mußten, die Mühsal und die Einsamkeit. Ängstlich und gehorsam, bemerkte er, liefen die Kinder unter den niedrig fliegenden Wolken mit, es sah aus, als wüßten sie schon alles. Der Tod, die Einsamkeit, die Finsternis waren ihnen nicht fremd. Mit den Eltern und Großeltern durften sie nicht sprechen, sie mußten starr nach vorne schauen wie Hypnotisierte. Nur der Pfarrer und die Ministranten strömten für ihn etwas Wunderbares aus. Aus den Gesichtern der Kinder jedoch las er nur Ausgeliefertsein, Kargheit und Armut.
     
    Er sperrte die Schule auf und setzte sich vor die Tafel in das leere Klassenzimmer. Von einer Seite konnte er die zugefrorenen Fischteiche sehen, auf denen Kinder Schlittschuh liefen. Er saß gerne in der leeren Schulklasse. Er machte das oft. Er mochte die grüne, abgewaschene Tafel, die gespitzten Kreiden, den Schwamm und das steifgetrocknete Tafeltuch. Manchmal legte er einen Stapel unkorrigierter Hefte auf eine Bank und arbeitete, bis es dunkel wurde. Ihm war ein Ausflug, den er in das Freilichtmuseum Stübing gemacht hatte, eingefallen, wo er verschiedene Bauernhäuser, Schmieden, Rauchstubenhäuser, Mühlen, Alm- und Köhlerhütten gesehen und begangen hatte. Finsternis hatte fast überall
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