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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter
Autoren: Guillaume Musso
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Prolog
    Insel Nantucket
    Massachusetts
    Herbst 1972
    Der See erstreckte sich im Osten der Insel hinter den Sümpfen mit den Moosbeeren. Das Wetter war strahlend schön.
    Nach kühlen Tagen begann es erneut warm zu werden. Die Wasseroberfläche spiegelte die leuchtenden Farben des herbstlich bunten Waldes wider. »Da, schau mal!«
    Der kleine Junge ging auf das Ufer zu und blickte in die Richtung, in die seine Freundin zeigte. Inmitten von Blättern schwamm ein großer Vogel. Sein makellos weißes Gefieder, sein pechschwarzer Schnabel und sein langer schlanker Hals verliehen ihm eine majestätische Anmut.
    Es war ein Schwan.
    Nur wenige Meter von den Kindern entfernt steckte er Kopf und Hals ins Wasser. Dann tauchte er wieder auf und stieß einen lang gezogenen Ruf aus, der weich und melodiös klang, ganz im Gegensatz zum Krächzen der Schwäne mit den gelben Schnäbeln, die in vielen öffentlichen Anlagen zur Zierde gehalten werden.
    »Ich werde ihn streicheln!«
    Das kleine Mädchen trat ganz nah ans Ufer heran und streckte die Hand aus. Vor Schreck breitete der Schwan seine Flügel aus, mit einer so ruckartigen Bewegung, dass die Kleine das Gleichgewicht verlor. Sie plumpste ins Wasser, und über ihr schwang sich der Vogel mit schwerfälligem Flügelschlag in die Lüfte.
    Das kalte Wasser verschlug ihr den Atem, als ob ein Schraubstock ihren Oberkörper zusammenpresste. Für ihr Alter konnte sie sehr gut schwimmen. Im Meer legte sie zuweilen mehrere hundert Meter im Brustschwimmen zurück. Aber das Wasser des Sees war eiskalt und das Ufer schwer zu erreichen. Sie schlug wild um sich, geriet in Panik, als sie erkannte, dass es ihr nicht gelingen würde, ans Ufer zu klettern. Sie fühlte sich so winzig, so ganz und gar verloren in dieser fließenden Unendlichkeit.
    Der Junge zögerte nicht, als er sah, dass seine Freundin in Gefahr war: Er zog die Schuhe aus und sprang in voller Kleidung ins Wasser.
    »Halt dich an mir fest, hab keine Angst.«
    Sie klammerte sich an ihn, und eher schlecht als recht gelangten sie in die Nähe des Ufers. Er hielt den Kopf unter Wasser und schob sie mit aller Kraft nach oben. Dank seiner Hilfe konnte sie sich mit viel Mühe am Ufer hochziehen.
    Doch als er selbst aus dem Wasser klettern wollte, fühlte er seine Kräfte schwinden, als zögen ihn zwei kräftige Arme gewaltsam in die Tiefe des Sees. Er rang nach Luft, sein Herz schlug zum Zerspringen, ein unerträglicher Druck lastete auf seinem Gehirn.
    Er kämpfte, bis er spürte, wie sich seine Lunge mit Wasser füllte. Dann ließen seine Kräfte nach, er leistete keinen Widerstand mehr und sank nach unten. Seine Trommelfelle platzten, um ihn herum wurde alles schwarz. Eingehüllt in die Dunkelheit erkannte er, wenn auch verschwommen, dass dies vermutlich das Ende war.
    Denn da war nichts mehr. Nichts als diese kalte und schreckliche Dunkelheit.
    Dunkelheit.
    Dunkelheit.
    Dann plötzlich …
    Ein Licht.

Kapitel 1
    Manche werden als große Menschen geboren  …
    Und andere erlangen Größe
    Shakespeare

    Manhattan
    Heute
    9. Dezember
    Wie jeden Morgen wurde Nathan Del Amico durch doppeltes Klingeln geweckt. Er stellte immer zwei Wecker: einen, der ans Stromnetz angeschlossen war, und einen anderen, der mit Batterien betrieben wurde. Mallory fand das lächerlich. Nachdem er eine halbe Schale Cornflakes verschlungen, in einen Trainingsanzug geschlüpft und ein paar abgenutzte Reeboks angezogen hatte, verließ er die Wohnung für sein tägliches Training.
    Der Spiegel im Aufzug zeigte ihm einen jungen Mann mit angenehmem Äußeren, aber erschöpften Gesichtszügen.
    Du könntest dringend Urlaub gebrauchen, mein kleiner Nathan , dachte er und betrachtete aus der Nähe die bläulichen Schatten, die sich über Nacht unter seine Augen gelegt hatten.
    Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kragen hoch, schob seine Hände in gefütterte Handschuhe und stülpte sich eine Wollmütze mit dem Logo der Yankees über.
    Nathan wohnte im 23.   Stock des San Remo Buildings, jenem Komplex mit luxuriösen Wohnhäusern an der Upper West Side. Er hatte einen Blick direkt auf den Central Park West. Kaum hatte Nathan die Nase zur Tür rausgestreckt, entströmte ein kalter und weißer Dunst seinem Mund. Es war noch nicht richtig hell, und die Wohnhäuser am Straßenrand tauchten erst langsam aus dem Nebel auf. Am Vorabend hatte der Wetterbericht Schnee angesagt, doch bislang war keine einzige Flocke vom Himmel gefallen.
    Mit kurzen Schritten lief er
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