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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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verschluckt wie den Ort, an dem man sich befindet; der vorgibt, weniger ein Ort zu sein als vielmehr ein Eingang zu einem Ort, den man nicht wieder verlassen kann, sobald man ihn betreten hat, denn der Eingang ist kein Ausgang.
    Einerseits liegt das daran, dass mit dem Betreten Amarâqs die Erinnerung auszutrocknen beginnt und man allmählich vergisst, wie man an diesen Ort gelangte und dass man einmal ankam, ja, man beginnt zu vergessen, wie es war, als man ankam, und man glaubt sich an keinen anderen Ort mehr zu erinnern als an Amarâq, denn die Grenzen, die diese Stadt einschließen, legen sich um den Hals wie ein schwerer Schal, der das Wenden des Kopfes unmöglich macht, den Blick zurück. So setzt ein Vergessen ein, das maßgeblich das Ende der Welt zu dem macht, was es ist: zum Ende.
    Andererseits ist am Ende der Welt das Ende all dessen, was zur Welt gehört. Amarâq ist nicht nur ein Ort mit eigenen, unverwechselbaren Koordinaten, Amarâq besitzt auch eine Aufgabe, nämlich die, zu beenden. Das bedeutet, dass es an dieser Stelle zu einer Unterbrechung von Welt kommt, es bedeutet auch, dass es hier keine Fortsetzung von Welt gibt, dass es nach Amarâq nichts mehr gibt. Am Ende der Welt wartet demzufolge das Nichts, bis es an der Reihe ist, aber vielleicht ist es gar nicht das Nichts, das wartet, sondern das Etwas, das jedoch dermaßen ungeformt und ungeordnet ist, dass es dem Nichts ähnelt, wo es doch in Wahrheit alles ist. Amarâq wäre dann ein Ort, der alle Möglichkeiten bereithält, weil er in Wirklichkeit keine bereithält, da aber alles offen ist und sich diese Möglichkeiten im Chaos verbergen, weiß man nicht von ihrer Existenz.
    Weil an dieser Stelle die Welt aufhört, befinden sich hier lediglich ihre Reste, vereinzelte, zaghaft bunte Häuser, die Ausläufer vereinzelter, zaghaft bunter Häuser, und auch die Vegetation geht zu Ende, es gibt sie ausschließlich in Miniaturversionen: winzig kleine Pflanzenausläufer.
    Amarâq ist eine auslaufende Welt, weswegen das, was von ihr übrig ist, das Elementare, das Unverzierte, Unverstellte, geometrische Grundformen sind: Kegel und Quader. Die Stille, die von dieser Kargheit ausgeht, wird vom Kalben des Eises unterbrochen, den Meereswellen, dem Plätschern des Regens, dem Rieseln des Schnees; dieser Ort ist lediglich Kulisse für die Spielformen des Wassers.
    Aber vielleicht muss die Landschaft Amarâqs eine verhaltene sein, damit sie zeigen kann, dass die Erde in Wahrheit nicht das Gegenteil des Himmels, sondern seine Ergänzung ist: dass am Ende der Welt die Unterscheidung zwischen Himmel und Erde aufgehoben und der Himmel ein ebenso gewaltiges Meer ist wie das Meer ein gewaltiger Himmel und die Berge Wolken mit grauen Säumen und dass es im Bereich des Möglichen liegt, diese Spiegelung zu besteigen, und nicht bloß sie, sondern auch das echte Gewölbe, indem man auf die letzten Regentropfen wartet, den ersten Sonnenstrahl und den Regenbogen, auf den untersten Himmel, um anschließend langsam von Bogen zu Bogen, von Farbe zu Farbe zu klettern, im Winter, wenn alles gefroren ist, und mit jedem Schritt würde sich bestätigen, dass sich das Ende der Welt in der Höhe fortsetzt, dass es sich demnach nur um ein scheinbares Ende handelt.
    Natürlich hängt es von der Art des Blicks ab, wie und was gesehen und was übersehen wird: Der erzogene Blick wird sich an Gewohntem festhalten, der verzogene wird auch Dinge wahrnehmen, die er nicht hätte sehen sollen. Vielleicht liegt das Besondere an Amarâq daran, dass es eines besonderen Blicks bedarf, um es zu sehen, um gegen das Nichts anzusehen und das Etwas zu entdecken, das, wenn auch in Miniatur oder spärlich, trotzdem existiert. Gerade weil das, was in Amarâq übrig ist, Ausläufer sind, erzählen sie ausschließlich dem richtigen Blick ihre Geschichte, der falsche bleibt blind. Es ist, als würde die Natur, als würde die Stadt eine andere Sprache sprechen und sich über Bilder mitteilen, für die man besondere Augen benötigt. Allerdings ist es eine fragile Sprache, eine Scheibe, von deren Rändern man leicht abstürzt, und dies würde unvermittelt geschehen, es würde keine Warnung geben, das Nichts wäre mit einem Mal da, denn es ist getarnt –
    als Einsamkeit: Sie hat den Inhalt Amarâqs verdrängt, ihn weggeschoben und sich ausgebreitet, unübersehbar, unaustauschbar. Sie ist es auch, die sich in jedes Gespräch drängt und darauf achtet, dass ihr genug Raum gegeben wird. Das Gesagte selbst
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