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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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Kehrseite der Einsamkeit ist und die Fähigkeit besitzt, die Welt, und sei es für ein paar Sekunden, auszuschalten. Sie lebt vor allem in den Nächten Amarâqs, und wenn Keyi sie fühlt, scheint es ihm, als sei er endlich heimgekehrt.

2    Nachts wird Amarâq von einer Schwärze übermalt, so dickflüssig wie unvermischte Farbe, dann existieren weder der Fjord noch die Berge, Täler, Seen oder der Fluss, es gibt bloß eine schwarze Masse, ein Nichts, das sich fleckenweise über der Landschaft verteilt, den Rest bedrängt, aber Lücken zulässt, die es mit abstrakten Elementen, Lichtspielen, Lichtwellen, einem Meer aus Licht, füllt.
    Nachts verwandelt sich Amarâq in eine weite Ebene, die zweite Dimension verschmilzt mit der dritten, die Erde mit dem Himmel, und alles ist mit einem Mal Himmel. An klaren Nächten funkeln die Sterne wie erleuchtete Fenster eines fernen Ortes, an wolkendichten Tagen gesellt sich zur Finsternis ein Nebel, so undurchlässig, dass man glaubt, jemand habe ein weißes Leintuch über die Stadt gebreitet, das zwar die Dunkelheit verdünnt, Amarâq dafür stark verkleinert: jene Teile, die unter dem Laken liegen, scheinen nicht mehr zu existieren –
    bis zum nächsten Wind. In mondarmen Nächten dehnt sich diese Finsternis weiter aus, dann wird die Erde von silbrig schimmernden Eisbergen markiert, die wie Bilder aus einer Vergangenheit durch die Ebenen schweben, undeutlich, unnahbar, und beobachtet man sie, wird man sich im Wunsch verlieren, sie zu fassen, ihre Konturen nachzuzeichnen, ihre Formen, so bizarr sie auch sein mögen, so außerirdisch. Schließlich wird man sich an eine Sehnsucht erinnern, von der man nicht wusste, dass man sie besaß.
    Sivke trinkt aus dem Glas, das ihr Jens gegeben hat. Sie steht vor dem Fenster bei den drei Veilchen, die hartnäckig in ihren Töpfen wachen, so überaus fremd am Ende der Welt, so vollkommen fehl am Platz. Sie sind genauso übernächtigt wie das Gespräch, das Jens anstrengt, das aber nach jedem Satz abstirbt, in dieser nüchternen, weißen Wohnung, die, indem sie ausschließlich das Nötigste bereitstellt, jede Stimmung sterilisiert, dabei will Sivke die Worte nicht welken lassen, sie mag Jens, sie glaubt Jens zu mögen, doch die Taubheit des Raumes treibt sie dazu, sich an die Aussicht zu klammern: Es ist wärmer hier, voll Leben, im Licht der Straßenlaterne geht ein Mensch vor dem Haus auf und ab, ein Mädchen.
    Julie stand an einem der Fenster, so breit und hoch wie die Wand, mit Blick auf den Fjord. Tatsächlich war sie versucht zu glauben, sie stünde vor einem Aquarium, ohne Fische oder Meeressäuger, dafür gefüllt mit braungrauen Bergen, lichtblauem Wasser, bei Sonnenschein glatt, bei Bewölkung gelockt, und Pyramiden aus Eis, deren Gipfel im Sommer vereinzelt durch die Bucht schwimmen, stark geschrumpft: Eishaie. Abgesehen von einer Sitzgruppe, einem Tisch und vier Stühlen aus hellem Holz, gab es in diesem Raum noch eine Küchenzeile mit Kühlschrank, Mikrowelle und Kaffeemaschine sowie ein braunes Sofa, das durch seine durchdringende Farbe und die Aufstellung in der Raummitte herausstach, als wäre es ein Ausstellungsstück: auf ihm zu sitzen fühlte sich an, wie im Zimmer zu stehen.
    Es war der Morgen danach. Während Jens Kaffee kochte, beobachtete er Julie aus den Augenwinkeln. Wie groß sie ist, sie ist ein langes Wesen, dachte er, langgezogen, Tentakel kamen ihm in den Sinn, im Gegensatz dazu sind ihr Mund, die Nase und die Augen sehr klein, sie scheinen sich vom Rand wegbewegt und in der Gesichtsmitte versammelt zu haben, keine friedliche Versammlung, sondern eine Demonstration, ein Protest. Auf den zweiten Blick aber ist Julie die menschliche Entsprechung zur Landschaft Amarâqs: Ihr Körper ist das Gebirge, das Meer, die Weite und Leere, ihr Gesicht dagegen die in der Natur verstreute Flora, Miniaturblumen und -büsche, Moose und Beeren, und man kann sich geradezu in ihrem Blick verirren, dachte er, denn er fordert es heraus, ihn zu studieren, aber die Abzweigung zu vergessen und den falschen Weg einzuschlagen. Er ist klein, dachte Julie, er reicht mir gerade bis ans Kinn, ich muss mich zusammenkauern, wenn ich neben ihm stehe, in die Knie gehen, mich reduzieren um einen Kopf, doch er kommt aus der Ferne, dachte sie und sah, wenn sie ihn ansah, eine Tür, einen Ausgang.
    Sein Schlagzeug liegt auf der Straße, die Trommeln, die Lautsprecherbox und der Drahtsitz. Per Kunnak zündet sich eine Zigarette an, Malin hat es
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