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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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interessiert sie nicht, ausschließlich die Zeitspanne, die es braucht, um es auszusprechen, so zensiert sie nach Dauer und Satzlänge –
    und die Stille legt sich über Amarâq, ein dichter Nebel, der den eigenen Atem zum Verbündeten hat.
    Mikkel Poulsen greift nach dem Anorak und dem Hausschlüssel, zögert aber und hängt beides zurück. Er schlüpft aus den Schuhen und späht in die Küche. Inger hat begonnen, die Kaffeekanne zu waschen, sie lässt das Spülmittel ins Kanneninnere tropfen, schrubbt das Gefäß langsam, rhythmisch, schwenkt es im Wasser, schwenkt es in Bögen und Zacken, taucht es unter, bis Blasen an die Oberfläche steigen, danach erst holt sie es aus der Plastikwanne und trocknet es ab. Entnimmt der Kaffeemaschine den Papierfilter, leert ihn aus, klopft auf die Naht, den Filterrücken, die Reste fallen in den Abfalleimer, Kaffeehagel, und stülpt ihn zum Trocknen auf den Pfefferstreuer. Bettet das Besteck in die Holzkiste, schlichtet Gabel auf Gabel, Messer auf Messer, Löffel auf Löffel, schiebt die Gläser im Regal gerade.
    Die Küche ist klein, sie enthält einen Herd, einen Kühlschrank, einen weißgestrichenen Tisch und zwei Stühle. Schmale hölzerne Gestelle sind an der Wand befestigt, Schöpfkelle, Kochlöffel, Pfannenwender baumeln über dem Herd, je drei Eimer Nutz- und Trinkwasser stehen unter dem Tisch. Inger hebt sich kaum von der Einrichtung ab, Mikkel würde sagen, sie sei gut getarnt, nicht nur ihre Kleidung, auch sie selbst sei ausgeblichen, als hätte man versucht, sie wegzuradieren, und übrig geblieben sei ein widerspenstiger Rest, der sich im eigenen Haus wie ein Gast bewege, stets über die Einrichtung stolpere, vollkommen fehl am Platz; mit der Zeit werde sie vollständig verblassen.
    Mikkel denkt kurz darüber nach, ob es möglich ist, mit einem Menschen zu sprechen, der chronisch abwesend ist, weil er im Grunde nicht an dem Ort ist, an den er gehört, mit einer unbeirrbar Verirrten, und noch während ihn diese Frage beschäftigt, wandern seine Augen von einem Ende des Raumes zum anderen, halten sich an den Gegenständen fest, am Fernseher, am Radio, am Fernglas, am Tisch, an den beiden Stühlen und an der Couch, Dinge, die er einst liebte und die ihm nun widerwärtig sind, und er erinnert sich an das gestrige Gespräch, das er belauschte, als Inger zu Sofie sagte, und ihre Stimme klang dabei so fremd, dass er meinte, er höre sie zum ersten Mal: Ungeteilte Liebe sei unfähig zu überleben, und doch sei sie in Amarâq oft einseitig.
    Als Inger seinen Blick auf sich spürt, hebt sie die Augen und beginnt, mit ihm zu sprechen, wortlos. Er greift nicht ein, versucht nicht, Wörter einzuflicken, Sätze, die das Mehrdeutige in Eindeutiges verwandeln würden. Sie antwortet, indem sie ihre Augen seinen entgegenhält und den Kontakt nicht abreißen lässt.
    Er wendet sich ab.
    Im ersten Moment ist sich Keyi nicht sicher, wo er ist.
    Er liegt unter einem Tisch, über ihm klebt Kaugummi, die Tischbeine sind zerkratzt, angeritzt, es riecht nach feuchtem Holz, Keyi rutscht in die Mitte des Raumes, setzt sich auf den Gulli, ein Lichtstrahl fällt auf seine Hand, und plötzlich bemerkt er den Geruch nach Waschpulver und erinnert sich, dass er in der Waschküche eingeschlafen ist, als Kissen diente ein Bündel zusammengerollter Kleidung, Hose und Pullover, als Decke sein Mantel, als Bett der Linoleumboden, und er wurde nicht weggedrängt wie gestern von Ulrika und Lone, die sagten, rück mal Keyi, rück ein wenig zur Seite, und die Maschine befüllten, den Seifenbehälter und den Geldschlucker und ein Gespräch mit ihm begannen, eines, das bloß die Zeit vertreiben sollte, das er daher mit Recht ignorierte, bis sie ihn in die Rippen stießen.
    Mach, dass du wegkommst, was bist du noch hier?
    Er geht in die Küche, lässt Wasser in den Wasserkocher laufen und drückt auf die Start-Taste. Nimmt einen Beutel Schwarztee aus der Dose, sucht in den Regalen nach etwas Essbarem, oft werden Lebensmittel zurückgelassen. Kein Brot, kein Kuchen, dafür findet er einen Beutel Zwieback, eine Packung alter Butterkekse und einen Becher Orangenmarmelade. Er bestreicht die Kekse mit Marmelade, wartet, bis der Tee abgekühlt ist –
    während er am Gebäck knabbert, weht durch eines der gekippten Fenster, auf deren Sims sich ein Grüppchen mumifizierter Fliegen versammelt hat, nachdem diese mit Sommerende zu Tode gefallen waren, einfach so, die Stille vom Tal der Blumen herein, jene Stille, die die
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