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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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Schachteln in den Jeep zu schlichten, der Wagen war von Gunnar, dem Taximann, geliehen. Die Mädchen bellten, knurrten, scharrten mit den Füßen, manchmal wedelten sie mit unsichtbaren Schwänzen, diese Woche waren sie Hunde, letzte Woche Vögel, hatten mit ihrem Geflatter die bewegliche Landschaft der Küche versehrt –
    Martin griff seinen Töchtern in die Haare, dirigierte sie heimwärts, sie versuchten, ihn zu beißen, schnappten nach seinen Händen, Fingern, er sagte, bye, und zog sie nach draußen, sie bockten, rodelten auf der Erde, er musste sie ein paar Schritte weit mit sich ziehen, sein Abschiedsgruß an Johanna wurde von ihrem Jaulen untermalt.
    Jens, endlich frei, nahm seine Taschen und trug sie ins Wohnzimmer. Johanna führte den Mieter durch das Haus, zeigte ihm, wo sich die Sicherungen befanden, wo die Waschmaschine, der Staubsauger, die Töpfe, Pfannen, Teller und Tassen, wo das Bettzeug gestapelt war, wo die Badetücher, Handtücher, Geschirrtücher, und jedes Mal nickte Jens, brummte kurz, und Julie rückte näher an den Türspalt, rückte, so nahe es ging, ohne den Spalt zu verstellen, linste durch die lecke Wand. Er war aus ihrem Sichtfeld verschwunden, sie hörte noch den Umriss seiner Stimme, die fragte, wie es ihnen im neuen Haus gefalle und als Antwort erhielt, sehr gut.
    Aber es ist noch nicht alles am richtigen Platz.
    Johanna machte einen letzten Rundgang, sie vergewisserte sich, dass sie nichts vergessen hatte, öffnete stichprobenartig Schubladen und Schränke. Wir leben gleich um die Ecke, sagte sie, falls etwas ist, nahm ihren Rucksack und verließ das Haus. Vergaß, dass sie mit einer Tochter mehr angekommen war. Jens begann auszupacken, von Raum zu Raum zu gehen, einzuräumen, aufzuhängen, abzustellen, als er eine ihm unbekannte Tür entdeckte, etwas kleiner als die anderen, kleiner und schmaler, man könnte auch sagen: geheimer. Er öffnete sie, vorsichtig, ungeölte Scharniere meldeten sich, Licht blinzelte durch den Spalt, schon stand er im Halbdunkel und starrte in ein graues Gesicht.
    Lass mich in Ruhe –
    Jens tritt gegen die Haustür,
    geh weg –
    er schlägt mit der Handfläche gegen das Holz, einmal, zweimal, dreimal,
    du hast hier nichts mehr zu suchen!
    Ein lautes Hämmern an der Tür, kleine harte Schläge in schneller Abfolge, mehr ein Rattern als ein Schlagen, manche hohl und flach, manche dumpf, manche mit klaren Konturen, man hätte sie nachzeichnen können, jagten, scheuchten Jens aus dem Schlafzimmer, er stellte sich vor das Pochen, schrie dagegen an, dann schlug er zurück, als kämen die Laute von der Tür selbst und nicht von außerhalb, schließlich brüllte und schlug er gleichzeitig, bis nur noch seine Stimme und Fäuste zu hören waren. Die Stille, die folgte, war die wiederhergestellte Norm, das sanfte Rollen der Wellen nach dem Ende des Sturms.
    Jens rührt sich nicht mehr, er bleibt über die Fußmatte gebeugt stehen, seine Stirn scheint an der Haustür festzukleben. Einsamkeit ist über ihn hereingebrochen, so plötzlich und mit einer solchen Wucht, dass er versteinert ist. Sivke, die auf Zehenspitzen angeschlichen kommt, bleibt in sicherer Entfernung stehen, sie wagt sich nicht näher, erst als er sich nicht mehr rührt, tippt sie an seine Schulter, zaghaft, aber er reagiert nicht, auch nicht, als sie ihn sanft am Arm rüttelt.
    Sie beugt sich vornüber in sein Gesicht, seine Augen sind erstickt, nicht erloschen, nein, erstickt. Als sie ihn anspricht, als sie seinen Namen ruft, wieder und wieder, rührt er sich. Er nimmt sie bei der Hand und führt sie zurück.
    Julie kroch widerwillig aus der Abstellkammer, sie zog es vor, zu sehen, gesehen zu werden war ihr unheimlich, Jens musste sie mehrmals ansprechen, ehe sie den Kopf hob, andererseits suchte sie seinen Blick, jedes Mal, wenn er die Augen senkte.
    Er begann sie zu befragen, wie sie heiße, wo sie wohne, was sie hier zu suchen habe, doch sie beantwortete keine seiner Fragen, sie streifte ihn aus den Augenwinkeln, so dass er meinte, sie wolle ihn nicht verstehen oder sie sei taub und stumm, so tänzelten sie umeinander. Das einseitige Gespräch jedoch steckte an: Je weiter der Zeiger der Uhr vorrückte, desto mehr Wörter fanden Julies Mund. Erst ein Klopfen beendete die Inquisition, es war die vergessliche Mutter –
    und das sei nicht das erste Mal, sagte diese, außer Atem, schon als Säugling sei sie verlorengegangen, verloren, unterbrach Julie. Ich dachte, ich wurde entführt.
    Aber ja,
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