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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz
Autoren: Håkan Bravinger
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Sie schob sich auf die Matratze und legte sich hinter ihn. Das Bett war schmal und wackelig, stand auf gestutzten Kieferbeinen und knarrte bei jeder kleinsten Bewegung. Sie hörte noch seine Atemzüge – fast schnarchend – und versuchte im gleichen Takt zu atmen wie er, aber es fiel ihr zunehmend schwerer, denn sie zogen sich immer länger hin, wurden verschluckt, setzten zwischenzeitlich aus. Dann verließ er sie. Einfach so. Ein letztes Ausatmen, und er war fort.
    Andreas Bjerre hatte im Alter von sechsundvierzig Jahren in einer Pension in Tyringe Selbstmord begangen. Man schrieb das Jahr 1925. Hinter ihm lag seine Ehefrau Madeleine. Auf Schreibtisch und Fußboden lagen Blätter verstreut, Korrekturfahnen und Notizen für die anstehende Vorlesungsreihe. An einem kleinen Spiegel lehnten säuberlich aufgestellt Umschläge. Für Madeleine stand auf dem einen, Für Mutter auf dem anderen.
    Die Abschiedsbriefe.
    Madeleine Bjerre hatte an diesem alles entscheidenden Novembertag 1925 keine Wahl gehabt. Sie hatte sich ins Bett geschoben und hinter ihn gelegt, seinen Atemzügen gelauscht, den langen, gedehnten, hatte ihn, der ganz klein und reglos lag wie ein schutzbedürftiges Kind, gestreichelt. So lagen sie noch, als sie ein letztes Mal seine Augen schloss.
    Ja, er hatte sie verlassen.
    Und sie hatte immer gewusst, dass er es eines Tages tun würde.
    Sein Selbstmord war alles andere als unumstritten. Poul Bjerre ging am weitesten. Er weigerte sich zu akzeptieren, dass Andreas absichtlich eine Überdosis Veronal genommen haben sollte. Poul Bjerre, der Bruder, der Arzt, der berühmte Psychoanalytiker und Schriftsteller, von dem Andreas stets behauptet hatte, er habe dem Hass Zugang zu seinem Körper verschafft. Dem beispiellosen Hass. In seinem Tagebuch notierte Andreas am 12. März 1915: »Poul war, nach Mutter, der erste Mensch, durch den mir in meinem Leben das Böse persönlich nahe kam.«
    Ihm zufolge handelte es sich um einen unaussprechlichen Hass, den Poul in sich trug, einen Hass, der sich nur beschwichtigen ließ, wenn Andreas ihn sich vom Leib schrieb. Und er schrieb – sein Tagebuch enthielt Tausende verzweifelter Ansätze, die Bedeutung dieses Hasses zu verstehen. Allerdings auch Beispiele für seine Sorge, diese Grübeleien könnten ihn zugrunde richten, und ein endloses Sezieren seiner eigenen Unzulänglichkeit, seiner Arbeiten, die unvollendet blieben.
    Madeleine, die den Bruderzwist so lange aus nächster Nähe verfolgt hatte, sah in diesem Hass ebenso sehr einen Ausdruck von Liebe und das Bestreben, einander trotz allen Übels noch nahe zu sein.
    Wenn es etwas gab, was sie nachvollziehen konnte, dann dieses: die Furcht, zu verlassen und verlassen zu werden. Kurz nach Andreas’ Tod fiel sie eine Treppe hinab. Es war nichts Ernstes, ein Beinbruch, wenn auch nicht ganz unkompliziert. Aber der Bruch verheilte nicht, wie er sollte. Die Wunde wollte sich nicht schließen und entzündete sich, die nachfolgende Infektion breitete sich im ganzen Körper aus. Die Ärzte, die ihr eigentlich schon einen Gips anlegen und sie nach Hause schicken wollten, standen vor einem Rätsel.
    Als Madeleine in Katrineholm im Kullbergschen Krankenhaus lag, sah sie, sobald sie die Augen schloss, Pouls eiskalten Blick vor sich, der sie getroffen hatte, als sie ihm von Andreas’ Tod erzählte.
    Mörderin!, hatte er sie angebrüllt. Du verdammte, dreckige Mörderin!
    Diese Worte verzieh sie ihm nie. Niemals würde sie ihm verzeihen, dass diese Worte den Weg zu ihrem wundesten Punkt gefunden hatten.
    Sieh mich an, ich habe alles verloren.
    Das war es, was Poul bei ihrer letzten Begegnung hatte verstehen sollen. Wie es war, wenn man einen Menschen verloren hatte, den man liebte und über zehn Jahre umhegt und gepflegt hatte. Andreas zuliebe hatte sie ihre einstige Familie aufgegeben, ihre Kinder, die Freunde, ihre beste Jugendfreundin, ihre Künstlerträume.
    Alles hatte sie aufgegeben.
    Sie wiegte ihn wie ein Kind, wenn seine Kräfte schwanden, lauschte seinen endlosen Tiraden über die Menschen, die ihm Unrecht getan hatten, denen er Unrecht getan hatte, streichelte seine Wange, wenn er nicht schlafen konnte, half ihm, Medikamente gegen die starken Schmerzen zu nehmen, schrieb seine Briefe, wenn er nicht mehr gegen sie ankämpfen konnte, versuchte seinem Sohn zu helfen und ließ ihn weiterschlafen, als er immer tiefer in die Bewusstlosigkeit sank, ließ zu, dass er aufhörte zu leben …
    Wozu man aus Liebe fähig ist, dafür
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