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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz
Autoren: Håkan Bravinger
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du senkst den Kopf. Schon als Kind hast du alles Anspruchslose geschätzt. Als du nun jedoch den Blick durch das schlicht möblierte Zimmer schweifen lässt, sieht es einfach nur trist aus. Ein Raum aus angesammelten, übrig gebliebenen Bruchstücken eines früheren Lebens.
    In diesem Moment denkst du allerdings nicht an mich und meinen Untergang, sondern an sie. Madeleine. Meine Frau. Meine liebe, liebe Frau, die ich für immer verlassen habe. Du denkst, dass sie dir einen Dolch in den Rücken gerammt hat. Dass sie an allem schuld ist. An meinem Tod und an deinen höllischen Kopfschmerzen. Alles ist einzig und allein ihre Schuld.
    Du überlegst, ob du nach Signhild klingeln sollst, aber die Ärmste schläft bestimmt. Stunden bevor das übrige Haus erwacht, ist sie auf den Beinen und geht immer als Letzte zu Bett. Wenn andere sehen könnten, wie liebenswürdig du deine Angestellten behandelst, würden sie ihre Meinung über dich ändern. Der Gedanke ist dir schon oft gekommen. Stattdessen sehen sie sich mit dem Choleriker konfrontiert, der jede noch so kleine Kritik persönlich nimmt und nie zögert, zum Gegenschlag auszuholen.
    Der kleine, wütende Seelenklempner. So hört sich die Sache dann an.
    Heute Nacht kommst du nicht so leicht davon, die Migräne nimmt einen neuen Anlauf, du spürst es am Pulsieren in deinen Schläfen.
    Du bist wie der Hund, der das Wasser auf seinem Weg durchs Gebäude in den Rohren rauschen hört. Andere Menschen spüren den Schmerz, sobald er zu einer Tatsache geworden ist. Aber du, Poul, du spürst ihn bereits auf seinem wirbelnden Weg durch die Nervenfasern.
    Das ist eine der Lehren für jemanden, der sein Leben lang kränklich und schwächlich gewesen ist.
    Verdammtes Weib! Dass sie es wagt!
    So denkst du jetzt, und es schreit förmlich in deinem Kopf. Eine verdammte Mörderin ist sie! Eine Mörderin!
    Ja, lass es abgründig brüllen in deinem Kopf.
    Du lehnst dich vor, versuchst die richtige Balance zu finden, um das Klappern zu lindern, das zu scharfen Klauen geworden ist, die sich schubweise in deine Schläfen krallen. Du kannst dir ein Lächeln nicht verkneifen, ein beißendes, höhnisches Lächeln, als wolltest du so den Schmerz stillen, dich in der Pein suhlen, ein Teil von ihr werden und sie so aufheben. Dann legst du dich, ganz vorsichtig, aufs Bett.
    Wie immer, wenn man am Gleichgewicht rüttelt, kommt der Schmerz in einer Sturzflut.
    Mit etwas Glück ebbt er jedoch bald wieder ab, sodass du die Augen schließen kannst. Die Zuckungen in deiner Hand zeigen, wie sehr du versucht bist, ein bisschen mehr von jenem Pulver zu nehmen, aber du weißt, es würde dir nicht helfen, auch diesmal nicht.
    Wenn du in diesem Moment die Wahl hättest, würdest du sie der Polizei übergeben. Aber du besinnst dich und denkst, dass es ja keine Rolle mehr spielt. Es ist ohnehin zu spät. Die Leiche ist aufgebahrt, obduziert und beigesetzt worden.

Ansonsten strahlte sein Gesicht Ruhe aus,
    der kurze Hals, die eng stehenden Augen.
    Stockholm, 10. September 1913
    Nie war die Welt moderner als 1913. Ganz Stockholm war vom Geist der Erneuerung erfüllt, fort mit dem Alten und Antiquierten, her mit dem Neuen und Frischen. Alles sollte hell sein und nicht mehr morsch und stickig. Fort mit beschränkten Moralvorstellungen, her mit gesundem Denken. In London demonstrierten Suffragetten und forderten das Wahlrecht für Frauen, hielten Großdemonstrationen und gut besuchte Versammlungen ab – es kam allerdings auch zu öffentlichen Aktionen wie dem Einschlagen von Fensterscheiben, der Verwüstung öffentlicher Plätze, zu Zwischenrufen und Steinwürfen. We won’t take No for an answer , riefen sie zu Tausenden im Chor. Sylvia Pankhurst, eine der führenden Aktivistinnen, kam auf Einladung Frigga Carlbergs und des Vereins für das politische Wahlrecht der Frau nach Schweden und hielt einen bejubelten Vortrag.
    Die größte Wirkung erzielte jedoch Emily Davison, die sich bei den Pferderennen in Epsom Downs vor das Pferd George V. warf. Sie fiel ins Koma und starb wenige Tage später als die Märtyrerin, die der Kampf der Frauen in ihren Augen benötigte. Vielleicht hatte sie Recht: Mehr als zweitausend Frauen geleiteten sie zu ihrer letzten Ruhestätte, und ihr Sarg war von einer Fahne in den Farben der Suffragetten, violett, weiß und grün, bedeckt.
    Der gleiche Aufruhr gegen das Establishment ereignete sich in der Kunst. Nur ein paar Tage, bevor Davison zu Tode stürzte, wurde in Paris Strawinskijs
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