Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz
Autoren: Håkan Bravinger
Vom Netzwerk:
Ballett Le Sacre du printemps uraufgeführt. Bei jeder Probe gab es Streit, weil Strawinskij das Orchester nicht dazu bringen konnte, seinen eigenwilligen Rhythmen zu folgen. »Ihr seid ein Haufen musikalischer Analphabeten«, schnauzte er die Musiker an. Und Djagilews Ballets Russes mit Nijinsky als Choreographen schockierten das gesamte Premierenpublikum, als es barfuß auftrat und barbarische Riten in ihrer ganzen Brutalität und Erotik anschaulich machte. Am Abend der Premiere schrie das Publikum so laut, dass die in seltsame Volkstrachten gehüllten Tänzer am Ende die Musik nicht mehr hören konnten. Strawinskij verließ das Parkett, lief hinter die Bühne und eilte Nijinsky zu Hilfe, der auf einem Schemel stand, sich auf die Bühne hinauslehnte und die Taktschläge rief. Der Dirigent, den Djagilew ermahnt hatte, weiterzumachen, ganz gleich, was auch geschehen würde, dirigierte die schreckensstarren Musiker im Orchestergraben mit immer weiter ausholenden Armbewegungen. Es herrschte vollkommenes Chaos, Vergleichbares hatte man nie zuvor gesehen. Die Kritiker übertrafen sich gegenseitig bei dem Versuch, die Aufführung möglichst brachial zu verreißen: Irrenhausmusik, Pornographie, Primitivismus.
    Doch das spielte alles keine Rolle – her mit dem Neuen, fort mit dem Alten.
    Der italienische Maler und Komponist Luigi Russolo veröffentlichte sein futuristisches Manifest »Die Kunst der Geräusche«, in dem er erklärte, man müsse sich von den rein musikalischen Lauten lösen und die unendliche Variationsbreite der Geräusche erobern.
    Kein Weg führte mehr zurück. Die Welt würde für immer eine andere sein. Laufend wurden Erfindungen vorgestellt, die der Menschheit neue wichtige Schritte nach vorn ermöglichen sollten. In Amerika führte man das Fließband ein, und der schwedische Reißverschluss wurde weltweit patentiert. Ivar Kreuger gründete den schwedischen Streichholztrust, und man sprach von einer neuen Ära des Finanzmarkts, die auf dem simplen, aber genialen Sicherheitsstreichholz basierte. Nur ein Krieg würde die Zukunftsvisionen zerschlagen können. Aber außer im Süden des Kontinents, wo der zweite Balkankrieg im Herbst seinen Höhepunkt erreichte, herrschte in ganz Europa Frieden.
    Frieden und Zukunftsglaube. Es lag in der Luft, als wäre es greifbar. Und nicht nur Kunst und Wissenschaft waren mitten in ihren spannendsten Phasen. Andreas Bjerre war sich durchaus bewusst, dass seine Arbeit im Strafrecht revolutionär war und sich perfekt in die Zeit fügte, er wusste, nun war es möglich, Dinge durchzusetzen, die wenige Jahre zuvor noch als völlig unangemessen gegolten hätten. Jetzt bestand die Möglichkeit, mit alten Auffassungen von Schuld und Sühne aufzuräumen – und, nicht zuletzt, den Blick auf die Chancen des Menschen zu lenken, seine Schuld tatsächlich zu sühnen. Noch hatte er sich nicht von dem anfänglichen Schock erholt, den er erlitten hatte, als er seine Interviews mit den Insassen des Gefängnisses auf der Insel Långholmen geführt hatte, die zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Er erkannte, dass sie sich im Großen und Ganzen in nichts von anderen Menschen unterschieden. Sicher, es gab welche unter ihnen, die zweifelsohne psychisch krank waren und von denen die extremsten Fälle vermutlich als »bösartig« beschrieben werden konnten, seiner Meinung nach ließen sich diese jedoch an einer Hand abzählen.
    Die meisten waren ganz normale Jünglinge und Männer, die vielleicht nicht die aufgewecktesten waren, sich aber keinesfalls von Grund auf als bösartig abstempeln ließen. Bei ihren Verbrechen war es häufig um Geld gegangen. Für Andreas stand außer Frage, dass arme Menschen eher dazu neigten, ein Verbrechen zu begehen, weil sie so wenig zu verlieren hatten. Wenn man darum kämpfte, zu überleben oder sich eine leidliche Existenz aufzubauen, um Essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf zu bekommen, erschien einem das Verbrechen verlockender als einem Menschen, der bereits alles besaß, was er zum Leben benötigte, und noch viel mehr.
    Bis zum jetzigen Tag hatte man diese Straffälligen ein für allemal wegsperren wollen. Man glaubte, dass sie für die Gesellschaft verloren waren. Doch selbst wenn es so war, wurden doch einige von ihnen irgendwann wieder auf die Menschheit losgelassen: Oft wurden sie begnadigt oder hatten ihre Strafen abgesessen. Nachdem sie jahrzehntelang hinter Schloss und Riegel gesessen hatten, waren nur wenige von ihnen dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher