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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz
Autoren: Håkan Bravinger
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gibt es keine Grenzen.
    Und nichts von all dem wollte Poul begreifen.
    Das ist doch Wahnsinn, dachte sie, als sie mit hochgelagertem Bein in ihrem Krankenbett lag und die Stunden sich dahinschleppten. Das Zimmer war in jeder Hinsicht trist: drei Betten an jeder Längsseite, ein zusätzliches Bett an der Stirnwand zum Korridor, weiße Laken und braune Decken in straff bezogenen Betten, eine hohe Decke, seelenlos, braun, grau und weiß. Die Krankenschwestern waren stets missmutig, als fürchteten sie, bei etwas ertappt zu werden, das sie entweder getan oder unterlassen hatten. Eine Sorge, die sie zu überspielen schienen, indem sie schimpften und polterten. Einen Hauch von guter Laune verbreiteten sie nur morgens um Viertel nach fünf, wenn das ganze Zimmer mit kampflustigen Rufen geweckt wurde.
    Das praktisch ununterbrochene Tropfen von den Fallrohren in die Regentonnen, eine eigentümliche Mischung aus Schlafen und Wachen. So vergingen ihre Tage im Krankenbett. In der ersten Nacht starb ihr gegenüber eine Frau. Madeleine merkte es nicht, erfuhr erst am nächsten Tag, dass sie an Magenkrebs im Endstadium gelitten hatte. Es war zu erwarten gewesen, sagten die Frauen in den Nachbarbetten, woraufhin Schweigen herrschte, als wäre diesen Worten nichts mehr hinzuzufügen. Und Madeleine stand vor Augen, wie die Frau in einer versteckten Klause gewaschen und hergerichtet wurde, um anschließend, neben ihrem ausgemergelten Körper eine brennende Kerze, der Familie präsentiert werden zu können. Wir sind nur Frauen in diesem Zimmer, dachte sie, Frauen, die sich auf Grund ihrer Einsamkeit, ihres Grauens und ihrer Verzweiflung innerlich zerfleischen.
    Danach lauschte sie weiter dem ewigen Tropfen in die Regentonnen.
    Alles hatte sie aufgegeben.
    Und Poul nannte sie eine Mörderin.
    Dieser Bruderhass, dachte sie, der einem durch Mark und Bein ging, der alles, was ihm in die Quere kam, zerstörte. Jetzt wollte er in ihren Körper eindringen und ihn zersetzen und verzehren. Nichts konnte ihm trotzen, er wälzte sich voran wie eine unaufhaltbare Springflut.
    Andreas und Poul waren zwei Seiten derselben Medaille, dachte sie weiter. Nein, das klang zu platt, zu alltäglich . Andreas und Poul waren wie ein zweigeteilter Mensch, bei dem die Eigenschaften der einen Hälfte spiegelverkehrt in der anderen Hälfte existierten. Die Wahrnehmung, die aus dieser Spiegelung entstand, erinnerte in manchem an Hass, war jedoch etwas ganz anderes, vielleicht Selbstverachtung. Eine Form von Herablassung, wie sie entstand, wenn man sein Spiegelbild in einer sich dunkel kräuselnden und verzerrenden Wasseroberfläche betrachtete.
    So wie man in der Antike meinte, im Spiegelbild des Wassers seine Seele zu erblicken – und wenn jemand Kiesel ins Wasser streute und das Bild in den Ringen verschwand, wurde im selben Moment auch die Seele ausgelöscht.
    Genau darin lag der Widerspruch. Erst gemeinsam bildeten Andreas und Poul ein Ganzes, ein von der Umgebung abgetrenntes Wesen. Ihre Verabscheuung des jeweils anderen, dachte sie, glich dem Gefühl, das einen ereilt, wenn ein Muskel schmerzt oder einen Magenkrämpfe plagen: So sehr es auch schmerzen mochte, man konnte dem Körperteil nicht böse sein. Er war immerhin ein Teil von einem selbst. Man wollte, dass er wiederhergestellt und nicht etwa amputiert oder herausoperiert werden musste – bildete er doch mit den anderen Körperteilen den ganzen Menschen.
    So war ihr gegenseitiger Hass, dachte Madeleine, als sie im Krankenbett lag und die Stunden sich dahinschleppten.
    Wie Selbstverachtung.
    Das Versprechen, das Andreas ihr einst gegeben hatte: Ich werde dich niemals verlassen. Sie hatte seine Worte noch im Ohr, und wenn sie die Augen schloss, war er da, ganz nah. Sie erinnerte sich so gut – es war mitten im Winter, im Januar 1914, gewesen und sie hatten auf Heleneborg, dem alten Anwesen der Familie Nobel im Stockholmer Stadtteil Södermalm gewohnt –, Andreas legte seine Arme um sie, stand hinter ihr, sog ihren Duft ein, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und küsste sie.
    Dann sagte er es: Ich werde dich niemals verlassen, Madeleine, niemals.
    Es war das Sinnbild ihrer Liebe, und sie konnte die Erinnerung innerlich heraufbeschwören. Als läge sie im Entwickler, der die Silberbromidkristalle sacht in kleine, winzig kleine, schwarze Silberkörner verwandelte. So erwachte das Bild zum Leben, fügte sich Schicht auf Schicht zusammen, bis ihre Gesamtheit ein Gesicht ergab. Der besondere Augenblick, als
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