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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz
Autoren: Håkan Bravinger
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sie in der Küche stand und Zwiebeln schnitt, ihn nicht kommen hörte und dachte, er säße noch im Arbeitszimmer und schriebe. Dann spürte sie plötzlich seinen Körper an ihrem, seine tiefen Atemzüge und wie er sein Gesicht in ihren Haaren vergrub, seine Atemzüge an ihrem Hals.
    Manchmal dachte sie, wenn Poul sie damals gesehen hätte, als sie in der kleinen Küche standen, würde er verstehen. Dann würde er nachgeben und sie nicht verurteilen und seinen Bruder nicht mehr hassen. Dann fände dieser Bruderhass ein Ende, und ihr bliebe erspart, ihn vor Augen zu haben, als er sie Mörderin nannte und mit seinem eiskalten Blick strafte.
    Stattdessen fehlte ihr die Kraft, gegen die Infektionen anzukämpfen, die in ihrem Körper wüteten. Die Wunde weigerte sich zu heilen, und so starb sie im Alter von dreiundvierzig Jahren an den Folgen ihres Beinbruchs. Möglicherweise starb sie letztlich doch an einem gebrochenen Herzen, schrieb Poul seiner Mutter, als ihn die Nachricht von ihrem Ableben erreichte.

I Waffenbrüder
(1913)
    Traum: »Gemeinsam mit meinem älteren Bruder sollte ich eine Brücke überqueren, die hoch über dem Erdboden verlief und kein Geländer hatte. Mir wurde immer schwindliger. Gegen meinen Willen zog es mich zum Brückenrand. Am Ende musste ich auf allen vieren kriechen, um nicht in die Tiefe gezogen zu werden. In der Zwischenzeit war mein Bruder mir vorausgeeilt. Er nahm keine Notiz von mir.«
    Die in diesem Traum geschilderte Situation ist weit verbreitet [ …] Wir alle tragen den Abgrund in uns, und der Anblick der gefährlichen Tiefe vergegenwärtigt diese Tatsache – zumindest tragen wir den Tod als Endziel in uns. Der Traum stammt von einem jungen Studenten, der auf Grund einer perversen Veranlagung große Vertrautheit mit Vernichtungsgefühlen erlangt hatte. Charakteristisch ist, dass er in seiner beängstigenden Lage selbst von dem Menschen allein gelassen wird, der ihm am nächsten steht. Was die Wanderung über die Brücke des Lebens mehr als alles andere so schwierig macht und uns zwingt, auf allen vieren zu kriechen, ist die Einsamkeit.
    Poul Bjerre, aus Das Träumen als Heilungsweg der Seele

Lieber Bruder …
    Du denkst, dass dich jetzt, in der Nacht zum 28. November 1925, niemand sieht. Während du im Bett liegst, dich auf den Ellbogen gestützt aufrichtest, die Augen zu Schlitzen verengst und in die undurchdringliche Finsternis blinzelst. Du glaubst, in dieser frostigen Nacht ganz allein zu sein und dass niemand weiß, wie schutzlos und verletzlich, im Schüttelfrost der Migräne zitternd, du in deinem Bett liegst. Du glaubst, dass keiner die charakteristische Sorgenfalte zwischen deinen Augenbrauen sieht, die du immer dann der Kamera gezeigt hast, wenn du darauf bedacht warst, einen möglichst stilvollen Eindruck zu hinterlassen, »einen Hauch von Genialität«.
    Es ist die gleiche Falte, die man auch beobachten kann, wenn dich der Schmerz im Unterleib trifft und mitten in der Nacht aufweckt.
    Du glaubst, dass dich jetzt niemand sieht.
    Aber du irrst dich, Bruder. Ich sehe dich.
    Endlich, endlich , denkst du, wenn die Kopfschmerzen für eine Sekunde nachlassen.
    Das Haus kommt dir verändert vor. Deine Augen haben sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt, und du kannst größere Teile des Zimmers erkennen. Trotzdem bist du immer noch schlaftrunken und weißt nicht, wie viel Uhr es ist, nur, dass es noch Nacht ist und das ganze Haus in die Stille der Winterdunkelheit getaucht ist. Das eigentümliche Säuseln der Kiefern im Freien, wenn der Wind in ihre kargen und bittenden Äste fährt und sie wiegt. Das Säuseln, das in den wogenden Bewegungen immer wiederkehrt, fast einlullend, um dann plötzlich so aufzuheulen, dass die Fensterleisten pfeifen, als versuchte der Wind, ins Haus einzudringen und sich durch die zahlreichen Ritzen hineinzuschleichen, die ohne Wachposten geblieben sind. Jenes Haus, das deine Burg ist, in der Unwillkommenen kein Einlass gewährt wird.
    Dann wird dir bewusst: Sie ist abgereist.
    Und auf einmal stehst du in deinem Nachthemd kerzengerade im Zimmer und möchtest schreien. Es ist, als würde dein ganzer Körper geschüttelt, und das Gefühl bricht sich Bahn, sodass du gestikulieren musst, um die Wut herauszulassen. Nie wieder wird sie über die Schwelle dieses Hauses treten, denkst du und fuchtelst mit den Armen, nie wieder.
    Nur über meine Leiche!
    Dann aber setzt du dich auf den Holzstuhl und musst schwer seufzen. Deine Schultern fallen herab, und
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