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Hassbluete

Hassbluete

Titel: Hassbluete
Autoren: Agnes Kottmann
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PROLOG
    »Ich bring sie alle um«, schrie der Junge in den Hörer.
    Seinen Namen hatte er nicht genannt – wie die meisten Menschen, die niemanden zum Reden hatten und bei der Telefonseelsorge anrufen mussten. Der Fernseher, der seit Neuestem ganz hinten in der Ecke stand, lief gerade tonlos. Helen Marquardts Bruder hatte ihn nach seinem Umzug eigentlich nur für ein paar Tage im Büro unterstellen wollen. Nun stand er schon ganze drei Wochen hier. Aber heute war Helen dankbar dafür, weil er sie schnell mit den wichtigsten Informationen versorgte. Es flimmerten Aufnahmen vom Schulmassaker in Elbdetten über den Schirm, das gerade auf allen Kanälen Thema Nr. 1 war. Ein Junge hatte in einem Amoklauf acht Mädchen, zwei Jungen, drei Lehrerinnen und einen Lehrer erschossen.
    Helen Marquardt war sofort aufgefallen, dass vor allem Mädchen die Opfer waren. Trotzdem war meistens nur von »den vierzehn Toten« die Rede, zehn Schülern und vier Lehrern.
    »Ich bring sie alle um«, sagte der Junge am Telefon noch einmal, diesmal etwas leiser. »Alle, die nicht sehen wollen, wie fies und gemein Tsunami ist.« Der Junge sprach hastig, als liefe seine Zeit bereits ab.
    »Von wem sprichst du, wer ist Tsunami?«, fragte Helen und überlegte, ob der Anrufer nur ein Trittbrettfahrer sein könnte, einer, der sich wichtig machen wollte.
    Die meisten solcher Anrufe gingen bei der Polizei und nicht bei der Telefonseelsorge ein. Helen hatte in ihrer kurzen Zeit beim kommunalen Kummertelefon nur einen dieser Scherzanrufe erhalten: Der Anrufer wollte seine Schule plattmachen – mit Stinkbomben, wie er dann in den Hörer geprustet hatte.
    »Sag ich nicht, bin ja nicht blöd«, antwortete der Junge. Helen schätzte ihn von der Stimme her auf vierzehn bis sechzehn Jahre. Es war wahrscheinlich zwecklos, nach seinem Namen zu fragen, wer er war und von wo er anrief. Seine Nummer war unterdrückt.
    »Wieso willst du mir denn deinen Namen nicht verraten? Ich bin zum Stillschweigen verpflichtet. Alles was du hier am Telefon sagst, bleibt unter uns.« Sie versuchte erst mal, ein bisschen Vertrauen aufzubauen.
    »Quatsch! Sie würden es sofort der Polizei melden.«
    »Nein, wie denn? Auch wenn du mir deinen Namen sagst, weiß ich ja trotzdem nicht, wer du bist.« Helen war sich immer noch nicht sicher, ob sie den Jungen ernst nehmen musste. Hatte er seine Drohung tatsächlich so gemeint, alle umzubringen, oder war dies nur ein Hilferuf?
    »Glauben Sie etwa, dass Sie mich aufhalten können?« Er hörte sich an, als würde er sich größer machen, als er war, als säße am anderen Ende der Leitung eine aufgeblasene Kröte, der beim Sprechen langsam die Luft ausging. Die Frage war nur, wer ihn vorher so aufgeplustert hatte.
    »Ich würde dich gerne aufhalten, ja. Wenn ich das richtig verstehe, hat doch eher Tsunami die Strafe verdient, nicht du und die anderen, oder? Warum willst du Unschuldige umbringen?«
    »Sie sind nicht unschuldig, sie haben mitgemacht, weggeschaut.«
    »Wer denn, deine Freunde?«, fragte Helen Marquardt.
    Sie hatte gelernt, wie man sich am besten auf einen Anrufer einstellte und ihn bei seinem Problem abholte . Meistens entschied sie spontan und nach Gefühl, mit welcher Taktik sie vorgehen würde. Oft reichte es, einfach nur zuzuhören. Aber manchmal konnten auch direkte Nachfragen genau das Richtige sein, besonders wenn sie provozierend klangen.
    »Hören Sie auf, solche Fragen zu stellen!«, blaffte der Junge. »Vielleicht kann Tsunami ja nichts dafür, vielleicht kann Tsunami nicht anders. Aber die anderen, die zusehen, die könnten anders. Das ist noch viel schlimmer.«
    »Was wissen sie denn? Hast du ihnen was gesagt?« Helen musste den Jungen möglichst lange am Reden halten und hoffte, ihn dadurch beruhigen zu können. Damit würde er vielleicht mehr Abstand zu seinem Vorhaben bekommen. Er war ihr erster Amokläufer, und das machte sie nervös.
    »Nein, ich hab nichts gesagt, aber so was merkt man doch. Wenn Sie mir jetzt auch nicht glauben, leg ich sofort auf. Dann ist alles Ihre Schuld, weil Sie mich nicht gestoppt haben, obwohl das Ihr Beruf ist.«
    Helen bekam schwitzige Hände, das hier war wohl wirklich weder Spaß noch ein Hilferuf. Dem Jungen war es ernst.
    Alte Erinnerungen aus ihrer Anfangszeit bei Reden ist Gold kamen hoch und diese bekannte Hilflosigkeit holte Helen wieder ein. Sie hatte gedacht, sie überwunden zu haben. Das alles endlich hinter sich gelassen zu haben. Und am Telefon die nötige Distanz zu
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