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Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Titel: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
Autoren: Eric Malpass
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1
     
    Morgendämmerung und ein Himmel wie kalter Haferbrei. In den Winkeln des Daches noch ein paar Flecken nassen Schnees.
    In dem großen, weitläufigen Haus lag die Familie im sonntagmorgendlichen Winterschlaf, eingekuschelt gegen die Kälte und den kommenden Tag.
    Aber Gaylord war gegen Kälte unempfindlich. Der junge Gaylord Pentecost war gegen die meisten Dinge unempfindlich. Gleich nach dem Aufwachen hopste er erst mal ein bißchen auf dem Bett herum. Als ihm das langweilig wurde, zog er die Schlaf anzughose auf seine nicht vorhandene Taille herauf und machte sich auf eine Besuchstour durch das Haus.
    Zuerst war Opa an der Reihe. In seinem Zimmer war es noch dunkel. Gaylord zog die Vorhänge auf.
    Die Vorhänge hingen an Messingringen. Wenn andere sie zurückzogen, klapperten sie wie Kastagnetten. Wenn Gaylord sie zurückzog, klang es wie eine Maschinengewehrsalve.
    Opa öffnete nicht einmal die Augen. «Verschwinde, zum Teufel noch einmal», sagte er.
    Opa wirkte unter der Bettdecke wie ein massiver, kleiner runder Berg. Gaylord nahm einen Anlauf und landete mitten auf dem Berg. «Ich bin ein Ritter», schrie er. «Und du bist mein Schlachtroß.»
    «Ich bin kein Schlachtroß», sagte Opa. «Ich bin ein alter Mann, der seine Ruhe haben will. Herrgott noch mal.»
    Neugierig berührte Gaylord mit dem Finger eins der faltigen Augenlider. Er schob das Lid nach oben und betrachtete nachdenklich das gelbe, unheilverkündende Auge. Er ließ das Lid wieder herunterklappen. «Soll ich dir eine Tasse Tee machen?»
    «Wenn du recht lange dazu brauchst, ja», sagte Opa. Gaylord kletterte von ihm herunter. «Geht wie der Blitz», antwortete er vergnügt.
    «Bitte, laß dir Zeit», sagte Opa.
    Gaylord spazierte weiter zu Großtante Marigold. «Willst du eine Tasse Tee haben?» schrie er von der Tür her.
    Aber Großtante Marigold, deren Hörapparat neben der Brille und den falschen Zähnen auf dem Nachttisch lag, verhielt sich mucksmäuschenstill und stellte wieder einmal fest, daß bei solchen Gelegenheiten ihre Taubheit kein Leiden war, sondern sich als Segen und himmlische Zuflucht entpuppte.
    Gaylord begab sich zu Tante Rosie. Tante Rosies längliches, blasses Gesicht wirkte auf dem weißen Kissen nur wie ein gelblicher Fleck. Beim Anblick ihres Neffen wurde es keineswegs fröhlicher. «Was liest du denn da?» fragte Gaylord.
    «Ein Buch.»
    «Wie heißt es?»
    «», sagte Tante Rosie. «Bist du jetzt klüger?» fragte sie mürrisch.
    Wie Kohlen in eine Schütte purzelten die Silben in Gaylords Gehirn und lagen dort in wildem Durcheinander. Er trat dicht an das Bett heran und spähte Tante Rosie über die Schulter.
    «Sind Bilder drin?»
    «Nein», sagte Tante Rosie.
    «Wovon handelt es denn?»
    «Von Psychopathologie», sagte Tante Rosie. «Im täglichen Leben», fügte sie belehrend hinzu.
    Gaylord zog versuchsweise an ihrer Bettdecke. «Darf ich in dein Bett kommen?»
    Mit Tante Rosie ging urplötzlich eine Veränderung vor sich. Wie eine in die Enge getriebene Katze krümmte sie sich zusammen. Ihre Lippen spannten sich über den Zähnen. Sie umklammerte ihr Buch wie ein Radfahrer die Lenkstange, wenn er ohne Bremse bergab rast. «Ausgerechnet in der einzigen Stunde am Tag, in der ich vor dieser verflixten, verrückten Familie Ruhe habe, mußt du hier reinkommen! Raus jetzt und laß mich weiterlesen. Geh zu Becky. Sie hat bestimmt gern jemand bei sich im Bett, selbst dich.» Vor Erregung zitternd, starrte sie in ihr Buch.
    Gaylord betrachtete sie interessiert. Das hatte er schon oft bei ihr erlebt. Man unterhielt sich ganz normal mit Tante Rosie, und plötzlich tat sie, als wolle sie einen anspringen. Sehr interessant. Natürlich wußte er, woran das lag. Das hatte er von Opa gehört. Er kletterte auf das Fußende des Messingbetts. Es hatte wohl nicht viel Sinn, länger hierzubleiben. «Willst du eine Tasse Tee?» fragte er.
    Tante Rosie gab keine Antwort. Gaylord nahm sich vor, Tante Becky zu besuchen.
    Tante Becky war wie Erdbeeren mit Sahne, ganz Rüschen und Spitzen. Gaylord hatte Tante Becky gern. Er war so gut wie entschlossen, sie zu heiraten, wenn er erst einmal groß war. Jetzt zupfte er probeweise an ihrer Bettdecke. «Schlüpf rein», sagte Tante Becky.
    Er schlüpfte hinein. Tante Becky war warm und weich und roch gut. Gaylord war weder warm noch weich. Es ist, als habe man einen großen Frosch im Bett, dachte Becky. «Wo warst du denn schon überall?» fragte sie.
    «Bei
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