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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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20. April, 1968 Sonnabend
    Das Wasser ist schwarz.
    Über dem See ist der Himmel niedrig zugezogen, morgendliche Kiefernfinsternis schließt ihn ein, aus dem Schlammgrund steigt Verdunkelung auf. Die Hände der Schwimmenden rühren voran wie gegen eine schwere Farblösung, kommen erstaunlich rein an die Luft. Überall sind Ufer nahe, in der Dämmerung glaubte ein Betrachter zwei Enten in der Seemitte unterwegs, eine dunkel, eine hell befiedert. Aber es ist zu früh für Menschen. Die Stille macht den See düster. Die Fische, die Vögel zu Wasser und zu Lande mögen nicht wohnen in der ausgebaggerten Senke, in den kümmernden Bäumen, der chemisch behandelten Landschaft, hergerichtet für zahlende Menschen. Laß dich zwei Fuß sinken unter die stillstehende Fläche, und du hast das Licht verloren an grünliche Schwärze.
    – Dein wievielter See ist dies, Gesine? sagt das Kind, sagt Marie, sagt der fremde Fisch, der aus langer Tauchfahrt hervorstößt. – How many lakes did you make in your life now?
    Zwei Stimmen über dem Wasser, in der verhangenen Stille, eine ein elfjähriger Sopran, schartig an den Rändern, die andere ein Alt von fünfunddreißig Jahren, kugelig, nicht sehr geräumig. Die Ostsee läßt das Kind nicht gelten.
    In der Ostsee zum erstenmal schwamm das Kind das ich war, vor dem Fischland und in der Lübecker Bucht, an den Seegrenzen Mecklenburgs, ehemals Provinz des Deutschen Reiches, jetzt Küstenbereich des sozialistischen Staates deutscher Nation. Schwamm mit Kindern, die tot sind, mit Soldaten der geschlagenen Marine, die das große mächtige Ostseemeer die überschwemmte Wiese unter den Ozeanen nannten. Aber in den Geographiebüchern dieses Landes heißt sie Baltic Sea, und Marie läßt sie nicht gelten. Es ist ein amerikanisches Kind.
    Wieviel Seen die Mutter beschwommen hat, mitgenommen, gemacht; welchen Rekord.
    Ein europäisches Kind nennen die Hiesigen sie, ausgehungert nach Zurückhaltung, Aufmerksamkeit, höflichem Betragen bei Kindern. Höflich hat Marie vor dem frühdunstigen Seerand gestanden, geduldig ist sie ihrer Mutter gefolgt in das knochenkalte Wasser, der Partnerin auf Gedeih und Verdruß seit sie lebt, noch nicht verzichtbar. Und wie sie es gelernt hat von den Nonnen ihrer Schule, benimmt sie sich schicklich und unterhält ein Gespräch beim Schwimmen. So gern sie die Gelegenheit unter Wasser verbrächte, sie hält den Kopf oben, versucht Anteilnahme zu zeigen in ihrem bestimmten, glattgewischten Gesicht.
    Wieviel Seen in fünfunddreißig Jahren?
    Geschwommen im gneezer Stadtsee, Sportunterricht der Oberschule Fritz Reuter nach dem Krieg, und das Kind Gesine Cresspahl sollte zu Wettkämpfen trainiert werden, Badeanstalt Stadtseite Gneez. Gneezer Stadtsee, wiederum in Gemeinschaft mit anderen, Südseite, wilde Badestelle der Schule, Klasse 10 A II , 11 A I , 12 A I . Geschwommen zu Hause im Militärbecken, vergessen von Deutscher Luftwaffe und Roter Armee, zusammen mit Lise Wollenberg, Inge Heitmann, dem Jungen aus der Apotheke der Stadt Jerichow. Nie: im Dassower See, nur zwölf Kilometer von meines Vaters Hintertür und unerreichbar, das Ufer Demarkationslinie, Staatsgrenze, das Wasser: Britische Zone, Bundesrepublik Deutschland, Westen. Mit Pius Pagenkopf: im Cramoner See, eine Fahrradstunde von der Schulstadt, zwischen Drieberg und Cramon, 1951. Allein, auf dem Wege von Jerichow, Nordwesten, nach Wendisch Burg, Südosten Mecklenburgs: im Schweriner See bis zur Insel Lieps, im Goldberger See, im Plauer See, in der Müritz. Mit Klaus Niebuhr, Günter Niebuhr, Ingrid Babendererde, Eva Mau in allen sieben Seen um Wendisch Burg, noch 1952. In Leipzig, in Halle: Rettschwimmertraining in überdachten Hallen, noch bis Mai 1953. Zum letzten Mal im Stadtsee von Gneez: Ende Mai 1953, und Jakob nahm mir den zerstochenen Fuß hoch wie einem jungen Pferd, und die Bewegung lief mir durch den Leib nach oben ohne einen Schmerz.
    Mit Jakob nie. Jakob arbeitete noch in Cresspahls Haus, auf den Dörfern, wenn wir abends aus Jerichow liefen für drei Runden in der Mili, Militärbadeanstalt, hartnäckig Mili genannt (auch der Fliegerhorst Mariengabe hieß nun ein für alle Male Jerichow Nord). Jakob ging weg aus der Stadt mit Arbeit bei der Eisenbahn, wurde einmal an der Pfaffenteich-Fähre, in Schwerin, fotografiert (in Gesellschaft von Sabine Beedejahn, ev., 24 Jahre alt, verh.). Jakob ging mit Freunden fischen an Seen, brachte Eimer voll lebender Krebse mit aus mecklenburgischen Seen, und
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