Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
Vom Netzwerk:
Marie, und sie mag sich gefürchtet haben vor solchem Großvater. Und Cresspahl fuhr zurück nach Jerichow. Ihre ersten Jahre verbrachte Marie unter Fremden mit Warten darauf, daß endlich jene einzig bekannte Person zurückkam aus ihren unbegreiflichen Entfernungen in Arbeit. Sie versuchte morgens zu fragen, ob sie teilen mußte mit jener unbesieglichen Arbeit oder der Tag gemeinsam blieb bis zum letzten Einschlafen, und sie konnte sich nicht gut verständlich machen. Sie bekam ihr Frühstück mit einer zweiten Kerze, und blieb beim Schweigen. Gesine hatte sich Pläne gemacht mit ihrem Kind, Vorhaben so unberaten wie hartnäckig. Einmal, es sollte keine Umwege zum Hochdeutschen geben. Es fühlte sich heikel genug an in der Kehle, und zwar waren Annäherungen willkommen, Grund zur Freude jedoch nur die Verwirklichung von M und i und l und ch in einem einzigen Wort (das obendrein die Verkleidung sein mochte von einem anderen namens Dust, noch zu verändern mit einem entbehrlichen r an kaum begreiflicher Stelle). Marie hätte der Anderen die Freude nicht ungern bereitet; vorerst verlegte sie sich darauf, die zu beobachten, ihr etwas zu zeigen oder wegzunehmen. Auf Gespräch mochte sie sich nicht einmal einlassen mit Vorsicht. Denn sie sollte die Worte auch noch abliefern in Folgen, die selten beliebig waren. Und sah sie richtig, so machte die Andere aus ihr gleichzeitig einen Jemand, der Auskunft über trockene Gefühle im Hals verweigerte mit einer überlegten Absicht: aus Übermut, aus Taktgefühl oder Eigensinn: drei mimische Angebote, drei mögliche Zusagen mit nichts als den Mitteln des eigenen Gesichts. Zwar, damals begann auch das Geheimnis zwischen beiden: so wie mit dieser Anderen sprach Marie mit Niemandem, nicht mit den Erzieherinnen und gar nicht mit den Kollegen, die auf ihre Weise den Beruf eines Kindes erlernten; selbst das wortlose Verständigen zwischen ihr und der Anderen war für Fremde nicht kenntlich. Und in der Nähe hatte sie Niemand, der es bequemer gab und zu dem eine Flucht lohnte; nur diese eine Partnerin, verfügbar und lästig in einem.
    Da sie keinen Vater zum Leben hatte, gab es lange das Wort nicht für sie, und lange nicht mehr als den Begriff davon. Auch verstand sie mit zweieinhalb Jahren nicht Fragen nach einer Mutter. Sie hatte keine; sie führte ein Leben mit einer Person, die Ine, Sine, G-sine hieß, als Schutz erträglich, als Kollegin um einiges zu schlau.
    Die bestand nicht auf Gehorsam, ihre Wünsche wurden nicht im Handumdrehen gültig; man konnte Schlafenszeiten bei ihr durchsetzen, auch Ausflugsziele, und hatte man einen Baum mit brennenden Kerzen weggewünscht, so versteckte die Andere zuverlässig, wie aus einem Streichholz eine Flamme herausplatzt. Und Widerspruch wünschte die Andere so dringlich, daß das Kind sich ausdenken mußte und sogar erinnern, was doch als Gefühl oder vergeßbarer Anblick wohler getan hätte. Nur, es war nicht anzukommen gegen jenen Teil der Anderen, der »Arbeit« hieß (etwas Verbündetes? etwas Gegnerisches?). »Arbeit« wollte Reise in einem Flugzeug nach Westberlin, »Arbeit« wollte Wohnen in fremden Häusern mit Leuten von noch rätselhafterer Sprache; da reichte Gehorsam nicht aus, und Neugier half, wenn es eine Wahl ohne und gegen die Andere schon nicht gab. Dann war das Kind mit Aufenthalten im Ausland versöhnt durch das Zurückkommen nach zählbaren Tagen, und ging harmlos mit nach Frankreich und auf ein Schiff nach Amerika. Nach einer Woche auf See erwies sich, daß die Andere zu schlau gewesen war. Die Reise war ein Umzug gewesen, der Komplize oder die Feindesmacht »Arbeit« verhinderte die Rückkehr nach Europa, und aus der Gewohnheit der morgendlichen Trennung war unverhofft ein Abkommen geworden, auszuführen in einer Vorschule am Hudson mit ganz neuer Sprache. Marie lebte schon zwei Jahre in New York und konnte noch das Zimmer beschreiben, das sie am Rhein zurückgelassen hatte. Längst bewegte sie sich im Deutschen wie in einer ersten Fremdsprache; dennoch verwies sie auf anderswo zurückgelassene Rechte, auf ein Bewußtsein von Unrecht, und hatte New York angenommen als ein Geschenk und verteidigte die neu erworbene Stadt als ein Recht.
    Früher als ein Kind auf der anderen Seite, noch nicht einmal eingeschult, begann sie hier gleichzuziehen mit der Anderen. Es war mit deren Englisch so weit her doch wohl nicht gewesen; beherrschte das Kind nicht rascher die verwischten Lautfarben, die unmerklich ansetzenden Hauchtöne,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher