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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis
Autoren: Majgull Axelsson
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Jemand ist in ihrer Kabine gewesen.
    Das weiß sie in dem Moment, als sie den Schlüssel ins Schloss steckt, weiß es, ohne es wirklich zu wissen, bereits als sie den Schlüssel herumdreht. Der Zylinder dreht sich ohne Widerstand. Aber sie hat doch abgeschlossen, als sie hinausging? Doch, ja. Sie schließt immer ab, wenn sie kommt und wenn sie geht, sie schließt sich sogar nachts ein, obwohl alle sagen, das sei gefährlich. Aber jetzt ist die Tür nicht abgeschlossen. Jemand ist in ihrer Kabine gewesen. Wieder.
    Sie zögert einen Moment, schaut sich zunächst im Gang nach links und rechts um, bevor sie die Hand auf die Klinke legt. Niemand ist zu sehen, aber sie hört Musik und Stimmen aus der Nachbarkabine. Dort wohnen Magnus und Ola, einer von ihnen lacht laut, und das beruhigt sie. Magnus ist ein schweigsamer Riese mit blauen Augen, Ola ein lächelnder Matrose, der mindestens eine Stunde täglich im Fitnessraum zubringt. Die kommen, wenn sie ruft. Dessen ist sie sich sicher. So gut wie sicher.
    Dennoch zögert sie noch einige Sekunden, bevor sie die Tür öffnet, bleibt dann mit gerecktem Kinn in der Türöffnung stehen und wittert wie ein Hund. Derjenige, der in ihre Kabine geht, wenn sie nicht dort ist, hinterlässt immer einen Geruch, einen leichten Hauch von Benzin oder Öl, Tabak oder Aftershave, stark genug, dass sie ihn bemerken muss, und dennoch so schwach, dass sie mit niemandem darüber reden kann.
    Sie tritt über die Schwelle und bleibt erneut stehen. Schaut sich um, schnuppert noch einmal und zieht die Mundwinkel hinunter. Heute riecht es weder nach Öl oder Benzin noch nach Tabak oder Aftershave. Sondern nach Urin. Obwohl das wahrscheinlich ein viel zu vornehmer Ausdruck dafür wäre. Denn Tatsache ist: Es stinkt nach Pisse. Das ist das hässlichste Wort, das sie kennt, aber nun mal das einzige, das den Gestank angemessen beschreibt. Jemand hat tatsächlich in ihre Kabine gepisst.
    Die Scham überrascht sie. Sie durchzuckt ihren Körper und treibt sie dazu, sofort die Tür hinter sich zuzuwerfen. Niemand soll erfahren, wie es in ihrer Kabine riecht, niemand soll einen Grund haben zu glauben, sie würde so riechen, niemand soll … Sie holt tief Luft und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür. Zeit, sich zu besinnen. Zeit, sachlich und vernünftig zu denken. Zeit, sich umzuschauen und zu registrieren, was er dieses Mal gemacht hat.
    Die Spuren seiner Anwesenheit, die er hinterlässt – denn es ist doch wohl ein Er? Es muss doch wohl ein Er sein? –, sind normalerweise deutlich genug, dass sie sehen kann, dass er da war, und dennoch so subtil, dass sie niemand anderem auffallen würden. Es hätte ja sie selbst sein können, die ihre Kulturtasche auf dem rauen Stoff des Sofas ausgekippt hat, die Decke und Laken aus der frisch bezogenen Koje herausgerissen und in einem unordentlichen Haufen wieder hineingeworfen oder den Schrank geöffnet und die saubere Unterwäsche herausgerissen hat. Doch so war es nicht. Das war jemand anderes. Jemand, der mindestens viermal in ihre Kajüte eingedrungen ist und Spuren und Gerüche hinterlassen hat.
    Das Schiff krängt, und sie spreizt die Finger, drückt die Handflächen gegen die Tür hinter sich, um die Balance zu halten. Die Berührung ist eine Ermahnung. Sachlich und vernünftig, so sollte man sein. Also richtet sie sich auf und macht ein paar Schritte in die Kabine hinein, um sich einen Überblick zu verschaffen, stellt sich breitbeinig hin, um weitere Krängungen zu parieren. Sie ist erst seit acht Tagen an Bord, aber der Körper hat sich den neuen Lebensbedingungen bereits angepasst. Deshalb sitzt sie breitbeinig wie ein Mann unten in der Bar, deshalb haucht sie draußen an Deck auf die Knöchel, bevor sie die Hände in die Achselhöhlen steckt, deshalb nimmt sie zwei Stufen auf einmal, wenn sie auf weichen Gummisohlen die Treppe zur Brücke hinaufeilt, zur täglichen Besprechung mit den Forschern und dem Kapitän. Sie sagt bei diesen Besprechungen selten etwas, schüttelt nur leicht den Kopf, sodass der Pferdeschwanz im Nacken kitzelt. Nein, als Vertreterin der Künstler hat sie nichts hinzuzufügen. Das Wort selbst berührt sie peinlich. Ist sie wirklich eine Künstlerin? Dessen ist sie sich nicht so sicher. Sie weiß nur, dass sie dort sitzt, weil Marcus – und er ist wirklich ein Künstler – nicht zu diesen Treffen gehen will. Er hat keine Zeit für so etwas, ist vollauf damit beschäftigt, auf dem Schiff eine Runde nach der anderen zu drehen und
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